„600 Millas“ (2015) Kritik: minimalistische Wucht

Bernhard 14. August 2015 0
„600 Millas“ (2015) Kritik: minimalistische Wucht

Filmfestivals sind bekanntlich meist Bühne für anspruchsvolle Independent-Produktionen und/oder Erstlingswerken von Quereinsteigern. Oft kann man auch das ein oder andere aus Hollywood bekannte Gesicht auf der Leinwand entdecken.

Im Debüt von Gabriel Ripstein kommen genannte Attribute zusammen: Der Mexikaner ist über die Wirtschaftssparte von Sony Pictures zum Film gekommen und der unter anderem aus Tarantinos „Pulp Fiction“ bekannte Tim Roth veredelt mit seiner Präsenz den ansonsten unbekannten Cast. Auf der Berlinale dieses Jahr konnte der Film den Preis „bestes Erstlingswerk“ gewinnen. Noch tourt der ruhige Thriller auf verschiedenen kleineren Festivals, um vorrausichtlich Ende des Jahres in die hiesigen Kinos zu kommen.

600 Millas“ greift einen wenig beachteten Bereich der Grenzkriminalität zwischen Mexiko und den USA auf: den Grenzschmuggel von Handfeuerwaffen durch Amateure. Arnulfo Rubio (Kristyan Ferrer), ein junger, unerfahrener Mexikaner, bringt illegal Waffen über die US-Grenze nach Mexiko. Versteckt sind sie unter den umgebauten Sitzen der Autos, die er fährt. Sein US-amerikanischer Komplize Carson (Harrison Thomas) kauft die Waffen in „Gun Shops“ und auf Waffenmessen legal mit seinem Ausweis und übergibt sie Arnulfo. So weit, so einfach. Als der A.T.F.-Fahnder Hank Harris (Tim Roth), die beiden festnehmen will, überwältigt Carson den Polizisten und lässt Arnulfo mit dem bewusstlosen Mann zurück. Verzweifelt versteckt der Junge Hank im Waffenfach seines Wagens und macht sich auf den 600 Meilen langen Weg von Arizona über die Grenze nach Mexiko. Dort hofft er, dass sein Onkel, in dessen Auftrag er arbeitet, die Situation klären kann.

Die Story ist sehr simpel und kommt mit wenigen bedeutenden Charakteren aus. Mit diesem schnörkellosen Ensemble entfaltet der Film jedoch eine unerwartete Wucht. Minutenlange Passagen ohne Schnitte verleihen der Darstellung eine solide Basis und erlauben den Blick aufs Detail. So fahren Arnulfo und Carson mit dem Auto von einem Parkplatz weg, die Kamera ruht aber, anstatt ihnen zu folgen, eine Minute auf der leeren Parklücke, bis ein neues Auto hineinfährt. Die Kamera fängt nur das ein, „was die Protagonisten auch sehen“ (Regisseur Ripstein), oft sind Geschehnisse nur durch Schatten oder Geräusche wahrzunehmen und finden außerhalb des eingefangenen Ausschnitts statt. Weniger ist wirklich mehr, denn Bilder vermitteln den Eindruck, man habe es mit einem Dokumentarfilm zu tun. Durch diesen Minimalismus ist der Film unmittelbar greifbar und extrem realistisch. Der vollkommene Verzicht auf Filmmusik reiht sich passend dazu nahtlos in die Inszenierung ein und unterstreicht durch die Stille die bloße Kraft der Bilder, den man sich nicht entziehen kann.

Dinner (600 Millas) (c) Lucia FilmsPartner Arnulfo und Carson (c) Lucia Films

Die beiden Protagonisten haben so unterschiedliche Qualitäten, dass ihre Interaktion nie vorhersehbar ist. Kristyan Ferrer spielt Arnulfo als einen Halbstarken, naiven Jugendlichen, der seine Rolle innerhalb der Familienmafia sucht und seine narzisstischen Züge nur allein auslebt. Er zerbricht an der fehlenden Loyalität seiner Familie, als sich die Waffenmafia so unerbittlich zeigt, wie er sie nie sehen wollte. In Hank Harris findet er einen Fels, während die Welt um ihn in sich zusammenbricht.

Der A.T.F.-Agent Harris ist ein stiller, opportunistischer Beamter, der stoisch, fast schläfrig seinem Schicksal entgegengeht. Selbst interessiert an Waffen, ist auch sein Antrieb, die Schmuggler hochzunehmen, offensichtlich begrenzt. Bei der versuchten Festnahme Arnulfos begeht der einen einfachen Fehler, der ihn in die Gewalt des Mexikaners bringt. Da man von seinem Leben, seiner Vorgeschichte nichts erfährt, wirkt er wie eine Allegorie, ein Phantom. Roths Spiel ist weit davon entfernt, schlecht zu sein, er verkörpert seinem Charakter Harris aber zu oft mit einer gelangweilten Haltung.

Es ist schwierig, das Genre des Films zu bestimmen, da die Story auf das Wesentliche zusammengekocht wurde. Auch das ist eine Stärke des Films, er entzieht sich in fast allen Belangen den gültigen Normen und Standards.

Als abschließendes Fazit bleibt mir zu sagen, dass Gabriel Risptein mit diesem Debüt schon jetzt Lust auf ganz viel mehr gemacht hat. Manche Szenen wirken so lebendig, dass auch andere Kinozuschauer sich im Film unterdrückte Ausrufe nicht verkneifen konnten. Sein Stil, der auf alle Fälle gewöhnungsbedürftig ist, hat derartig viele unkonventionelle Elemente, dass er wirklich überrascht.

Beitragsbild und Video (c) Lucia Films

„600 Millas“ (2015) Kritik: minimalistische Wucht

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