„High Rise“ Kritik – Anarchie im Naturzustand

Tobias Ritterskamp 25. März 2016 0
„High Rise“ Kritik – Anarchie im Naturzustand

Im Naturzustand herrsche nach Thomas Hobbes Anarchie, ja sogar immer Krieg. Konkreter heißt es: „Homo homini lupus est.“ und „Bellum omnium contra omnes.“. Der Mensch ist einerseits des Menschen Wolf und es herrscht andererseits ein Krieg aller gegen alle. Von Normen, Werten und Regeln wird sich mal eben verabschiedet, nur um kein schlechtes Gewissen beim Fremdvögeln, bei drastischer Gewaltanwendung, etc. haben zu müssen. Und wenn am Ende eine junge Frau aus der Oberschicht fragt, wer denn Lust hätte, sie in den Arsch zu ficken, dann hat auch der letzte Zuschauer verstanden, dass Anarchie ein Zustand der Wildheit, der Kontrolllosigkeit, ja der absoluten Ohnmacht ist.

Regisseur Ben Wheatley, einstiger Kurzfilmregisseur und Trickfilmzeichner, der sich vor allem durch seine Online-Projekte einen Namen gemacht hat, hat sich an die Verfilmung von James Graham Ballards dystopischem Roman High Rise aus dem Jahre 1975 gewagt. Herausgekommen ist ein psychedelischer Bilderrausch voller Gewalt, schmutzigem Sex, Chaos und mittendrin ein Haufen erwachsener Menschen gefangen im Körper von Kleinkindern, die übereinander herfallen.

Schauplatz der Verfilmung ist ein gigantisches und modernes Hochhaus im London des Jahres 1975. Entworfen hat es der zurückgezogen mit seiner Frau (Keeley Hawes) im Penthouse des Hightech-Gebäudes wohnende Architekt Anthony Royal (Jeremy Irons). Doch dieses Haus ist alles andere als gewöhnlich, denn es ist ein in sich geschlossener Mikrokosmos, eine Art reduziertes Abbild hochkomplexer Gesellschaften. Es ist ein Spiegel gesellschaftlicher Stratifikation. In den ersten zehn Stockwerken wohnen die unteren Schichten, während die Upperclass die oberen zehn bewohnt. Weitere 20 Etagen stehen der Mittelschicht zur Verfügung. Die Bewohner des Hauses sind von der Außenwelt beinahe gänzlich isoliert. Alles, was sie brauchen, befindet sich in diesem Gebäude. Hier eine Schwimmhalle, dort ein Fitnessstudio, da eine Squashhalle, die Schule nicht zu vergessen und natürlich ein Supermarkt. Lediglich zum Arbeiten verlassen die Menschen diese gewaltige Betonbutze. Unter ihnen auch der junge Arzt Robert Laing (Tom Hiddleston) aus dem 25. Stock, der ein ruhiges Leben in Anonymität führen möchte. Daraus wird allerdings nichts. Laing wird in ein komplexes Sozialgefüge hineingezogen, das schon bald wie das Gebäude selbst Risse bekommt. Der Strom fällt aus, Unruhe macht sich breit, aber die Party geht weiter. Was die feine Gesellschaft nicht interessiert, stößt in den unteren Schichten umso mehr auf Ärger. Der gescheiterte Dokumentarfilmer Richard Wilder (Luke Evans) begibt sich in die Rolle des Rebellen und will die Missstände sowie sozialen Spannungen im High Rise dokumentieren.

Mit Tom Hiddleston hat Regisseur Ben Wheatley zweifelsohne einen Schauspieler gefunden, der seinem Charakter eine Anmut, Intelligenz und emotionale Verletzlichkeit, kombiniert mit einem Hauch zulässiger Gefühlskälte, verleiht. Laing ist ein kalter Fisch in einem brodelnden Glutofen, doch auch er wird von Hitzigkeit befallen. Der hauseigene Supermarkt wird geplündert und Robert Laing ist ebenfalls beteiligt. Er prügelt sich mit einem Bewohner um die letzte Dose Wandfarbe. Dann wird gemalert, aber wozu? Reine Beschäftigungstherapie. Nebenbei Wilders schwangere Frau Helen (Elisabeth Moss) vögeln und sich um die alleinerziehende, verführerische und mysteriöse Charlotte (Sienna Miller) aus der Mittelschicht „kümmern“. Und zur Abwechslung squashen mit dem Architekten. Ein Mann für alle Fälle.

Wheatley hat mit High Rise eventuell so etwas wie eine dystopische Satire in Szene gesetzt, die hier und da plakativ daherkommt. Gesellschaften zeichnen sich natürlich durch eine komplexere Sozialstruktur aus und nicht durch klar voneinander getrennte Sozialschichten. Auch vermittelt der Film den Eindruck, dass Sympathie etwas ist, das mit zunehmender Schichtzugehörigkeit abnimmt. Deutlich wird dies, als Laing einer Einladung Anthony Royals folgt. Die Oberschicht feiert sich hier selbst ganz im Stile des Barocks, während der junge Arzt sogleich wieder hinausbefördert wird, weil er nicht die passende Kleidung trägt und statt edlem Schampus nur einen billigen Riesling gekauft hat. Als Dystopie-Thriller funktioniert High Rise nicht, aber als antiutopische Satire mit etwas zu wenig Humor entfaltet der Film durch seinen psychedelischen Bilderrausch, exzellent in Szene gesetzt von Kameramann Laurie Rose, und gerade durch die plakativen Elemente eine ungemeine Sogwirkung. Es bedarf gemeinsam geteilter Wertvorstellungen, Normen und Regeln, um eine Gesellschaft vor dem Kollaps zu bewahren und nicht der Herausbildung von Parallelgesellschaften, die diesen widersprechen oder gar nicht erst welche herausbilden. Dann nämlich heißt es: „Homo homini lupus est.“ und „Bellum omnium contra omnes.“.

Als dystopischer Thriller ist High Rise ein Flop, aber als düstere Satire recht gelungen.

High Rise läuft am 30. Juni 2016 in deutschen Kinos an.

Beitragsbild: © DCM Filmdistribution

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