Making a Murderer: Die Anatomie eines Kriminalfalls

Marie-Hélène Lefèvre 18. Januar 2016 1
Making a Murderer: Die Anatomie eines Kriminalfalls

True Crime-Doku-Fans aufgepasst! Netflix hat eine 10-teilige Doku-Reihe über den wahren Kriminalfall des mutmaßlichen Mörders Steven Avery veröffentlicht und dadurch eine neue Debatte in den US-Medien über den umstrittenen Fall ausgelöst.

Die unglaubliche Geschichte des Steven A.

Es klingt wie die Handlung eines schlechten Films: Ein Mann wird wegen eines Verbrechens, das er nicht begangen hat, 18 Jahre inhaftiert. Dem beharrlichen Einsatzes seiner Familie ist es zu verdanken, dass der Fall neu aufgerollt wird und der Verurteilte mit Hilfe einer DNA-Analyse freigesprochen wird. Kaum genießt der Mann die neu gewonnene Freiheit und reicht Klage gegen die Behörden ein, wird er auch schon wieder von denselben verhaftet – wegen Mordes.
Dem Amerikaner Steven Avery ist es in der Provinz von Wisconsin genauso ergangen. 2005 wurde er wegen Mordes an der 25-jährigen Teresa Halbach zu lebenslanger Haft verurteilt, nachdem er bereits 18 Jahre unschuldig im Gefängnis verbracht hatte. Sein Fall sorgte seinerzeit für viel Medienwirbel in den USA, was die Aufmerksamkeit von zwei Filmemacherinnen auf sich zog. Laura Ricciardi und Moira Demos sammelten über einen beeindruckend langen Zeitraum von zehn Jahren akribisch Informationen, Nachrichten- und Polizeiaufnahmen und Found Footage. Sie haben Interviews mit Familienangehörigen, Anwälten und Steven selbst geführt und Gerichtsverhandlungen und Handlungsorte gefilmt. Das Ergebnis ist so detailreich wie spannend.

Die Anatomie eines Kriminalfalls

Der Fall Avery wird chronologisch in zehn einstündigen Episoden nacherzählt und verzichtet dabei auf die häufig von True-Crime-Formaten genutzten Mittel der Nachstellung der Tat mit Schauspielern und einer erklärenden Erzählerstimme. Die Filmemacher treten nicht in Erscheinung; stattdessen lassen sie die Originalaufnahmen von Verhören, Gerichtsverhandlungen und Interviews für sich sprechen. Zusätzliche Informationen werden in Form von kurzen Texten eingeblendet.
Einen einzigen Fall über fast zehn Stunden zu analysieren, kann Gefahr laufen den Zuschauer zu langweilen oder sich in Details zu verlieren und langatmig zu werden. Nicht so hier. Ricciardi und Demos gelingt es, einen Spannungsbogen zu kreieren, der die Zuschauer bei Stange hält, indem er eine einfache Frage in den Vordergrund stellt: War Avery wirklich der Mörder von Teresa?
Im Zuge der Folgen kommen vorwiegend Personen in Interviews zu Wort, die Avery verteidigen, wie seine Anwälte, oder die an seine Unschuld glauben, wie seine Eltern. Sie schaffen es tatsächlich, Zweifel zu streuen. Doch vor allem schaffen es die Bilder der Vernehmung und der Polizei-Interviews Skepsis hervorzurufen. Nicht nur Bedenken, ob die Beweise echt sind, sondern Zweifel an der Vorgehensweise der ermittelnden Polizisten. Mit Entsetzen verfolgt man, wie fragwürdige Methoden benutzt werden, um Averys Schuld zu beweisen und plötzlich fiebert man mit, denn man zweifelt. Man zweifelt an belastenden Zeugenaussagen und damit auch an Averys Schuld insgesamt.
Ist er zum erneuten Opfer der Polizeibehörde geworden, die ihn von Anfang an als schuldig sehen wollte? Wurde er von ihnen als Mörder inszeniert oder tatsächlich zu einem gemacht? Eine endgültige und eindeutige Antwort kann die Dokumentationsreihe nicht geben, dafür aber den Kriminalfall mit all seinen widersprüchlichen, vielschichtigen Facetten widergeben.
In den USA stieß die Doku-Reihe eine neue Diskussion in der Presse und den sozialen Medien über Averys Prozess und seine Schuld an. Seit Dezember wurden mehrere Online-Petitionen zu Gunsten Averys ins Leben gerufen, die bereits nach wenigen Wochen von mehr als einer halben Million Menschen unterstützt werden.

Seit Dezember 2015 ist Making a Murderer beim Streaming-Anbieter Netflix abrufbar. Doch auch diejenigen ohne Netflix-Abo können sich einen Eindruck der Serie machen. Die erste Folge wurde zeitgleich auch auf YouTube veröffentlicht.