Winterschlaf – Kış Uykusu (2014): Kritik des türkischen Filmdramas

Nils 19. Juni 2015 2
Winterschlaf – Kış Uykusu (2014): Kritik des türkischen Filmdramas

Was man Mainstream-Filmen häufig ankreidet wird hier zum Stilmittel: Ob lange Einstellungen, minutenlange Dialoge oder ambivalente Charaktere – das türkische Drama „Winterschlaf“ lebt, neben einer beeindrucken Story und einem bildgewaltigen Setting, von einer Filmtechnik, die auch Hollywood ab und an nicht schaden würde.

 Gleich zu Anfang möchte ich klar stellen: Wer – wie auch ich vor einigen Tagen noch – bei der Beschreibung „dreistündiges, türkisches Drama“ an einen Arthouse-Streifen, der lediglich neue Alternative mit genügend Rauschmitteln im Blut zu neuen Einsichten über die Wirrungen des menschlichen Lebens führt, denkt, wird mit dem auf einer Kurzgeschichte von Anton Chekhov (1860 – 1904, Russland) basierenden Film von Nuri Bilge Ceilan eines besseren belehrt: Wer sich auf „Winterschlaf“ einlässt, findet sich schnell in einer langen und trotzdem nicht langweilig wirkenden Auseinandersetzung mit dem Gegensatz von Tradition und Veränderung sowie den massiven materiellen und ideellen Unterschieden zwischen Wohlhabenden und Machtlosen mitten im ländlichen Anatolien unserer Zeit wieder.

Armut, verletzte Ehre und ein Steinwurf

Winterschlaf PosterEs scheint schwer die Handlung des Mitte 2014 veröffentlichten Films treffend und gleichzeitig knapp zusammenzufassen. Denn auch wenn die Thematik eher banal wirkt, gelingt es „Winterschlaf“ so viele verschiedene Facetten des dörflichen Lebens in sich zu vereinen, dass selbst 3 Stunden Laufzeit noch zu kurz wirken. Die Erzählung dreht sich um Aydın (Haluk Bilginer), einen älteren Mann, der – zusammen mit seiner wesentlich jüngeren Frau, seiner alleinstehenden Schwester und einigen wenigen Angestellten – ein Hotel in den Berghöhlen um Kappadokien (mehreren Provinzen in Anatolien) führt. Gleichzeitig vermietet der begüterte Mann, der aus einer armen Bauernfamilie stammt, einige Häuer im Dorf. Für Aydın und seinen Gehilfen Hidayet (Ayberk Pekcan) beginnt die Problematik mit einem Steinwurf: İlyas (Emirhan Doruktutan), der Sohn eines Mieters von Aydın, der mit der Zahlung der Miete bereist einige Zeit im Verzug ist, wirft einen Stein auf das fahrende Auto der beiden. Im Laufe des Films wird dem Zuschauer klar, dass einige Tage zuvor ein Gerichtsvollzieher bei İlyas Vater, einem ortsbekannten Trunkenbold und dessen Bruder, dem Imam des Dorfes, war und zur Begleichung der Miete die wenigen Wertsachen der Familie gepfändet hat.

Nach einem Besuch des Imams und seines Neffen İlyas, der sich bei Aydın für die zerstörte Scheibe entschuldigen soll, lässt Aydın seiner Empörung über das Auftreten des Imams in einer Kolumne, die er regelmäßig für die lokale Tageszeitung schreibt, freien Lauf. Aydıns Text führt zu einer lang andauernden Auseinandersetzung mit seiner Schwester Necla (Demet Akbağ), die ihrem Bruder vorwirft, weit abgehoben von seinem Umfeld oberflächliche und unangemessene Kritik an Menschen zu üben, die nicht seinen kulturellen und intellektuellen Standards genügen. Auch die Beziehung zu seiner Frau Nihal (Melisa Sözen) zeigt bald die Schäden, die durch die völlig verschiedenen Lebensentwürfe der beiden über die letzten Jahre hinweg entstanden sind. Sie, die nicht arbeitet und sich in der wahrgenommen Enge ihrer Beziehung und ihres Wohnorts gefangen fühlt, möchte durch wohltätige Projekte einen neuen Sinn für ihr Leben finden. Als ihr Mann versucht, ein langes von Nihal vorangebrachtes Projekt kurz vor seinem Abschluss an sich zu reißen, eskaliert die Situation und entlädt sich Nihals jahrelang angestauter Frust. So nimmt der Film zum Ende hin etwas Fahrt auf und hinterlässt für die Figuren mehr Scherben als je zuvor, endet allerdings mit der bisher unerfüllten Hoffnung auf einen heilenden Neuanfang.

Ganz und gar nicht Hollywood

Technisch gesehen ist „Winterschlaf“ in erster Linie anders: Anders als man Kino heute gewohnt ist. Bereits in den ersten fünf Minuten verrät Ceilan wo es dramaturgisch hingeht. Die einleitenden Szenen haben ein bisschen etwas von einem Stummfilm: So begleiten kaum wahrnehmbare Hintergrundgeräusche beinahe minutenlange Einstellungen der zugegebenermaßen eindrucksvollen anatolischen Landschaft. Man muss sich zunächst an dieses unbekannte Erzähltempo gewöhnen, doch nach kurzer Zeit dankt man dem Film, dass man nicht alle 5 Sekunden von einem Schnitt überrascht wird (was nebenbei bemerkt auch gar nicht zur Handlung passen würde).

Sehr überzeugend und unerwartet gut wirkte die deutsche Synchronfassung, die sowohl die langen Dialoge wohlgewählt und mit passenden Formulierungen übersetzt als auch den Figuren einprägsame Stimmen verleiht. Ebenso wohltuend sind die gewählten Kameraperspektiven, die neben der durch sie repräsentierten Figurenkonstellation auch technisch gesehen interessant sind: So wird das klassische Mittel „Schuss-Gegenschuss“ beispielsweise durch einen Spiegel ergänzt und so immer auch der schweigende Gesprächspartner schemenhaft ins Bild gesetzt. Sparsam hingegen ist „Winterschlaf“ bei seinem Score: Abgesehen von einem Klavier und einigen wenigen Szenen wartet man vergebens auf melodramatische Filmmusik. Was einerseits die Gefahr des Kitschigen birgt, würde anderseits einigen Szenen noch mehr an Tiefe verleihen – alles in allem vermisst man die musikalische Begleitung allerdings nicht.

Zwischen Tradition und Veränderung

Zusammenfassend lässt sich Ceilans „Winterschlaf“ wahrscheinlich als modernes Portrait einer den Traditionen verhafteten Dorfgemeinschaft, die exemplarisch für den Konflikt zwischen einer gebildeten, wohlhabenden und vor allem einflussreichen Elite und der im Gegensatz dazu meist armen, auf jeden Fall aber weitgehend machtlosen Unterschicht in der Türkei verstehen. Deutlich wird diese Problematik an Aydın, der uns zunächst als wohlwollender und umgänglicher alter Mann vorgestellt wird. Im Verlauf des Films wird allerdings deutlich, dass er ebenso arrogant und hochmütig sein kann und aus seiner selbst wahrgenommen moralischen und intellektuellen Überlegenheit einen Anspruch auf Macht und Einfluss ableitet. Seine Kolumne wirkt nicht nur auf den Zuschauer, sondern auch auf seine Schwester, anfangs mehr wie ein sinnvolles Hobby. Besonders in seinem Umgang mit dem örtlichen Imam zeigt sich allerdings, dass Aydın sie vielmehr als Sprachrohr seiner Ablehnung gegenüber denjenigen missbraucht, die nicht seinen Ansprüchen genügen. Man könnte den Protagonisten kurzum als judgemental beschreiben, doch geht Aydın noch weiter: Durch seine „Güte“ und sein „Mitgefühl“ hebt er sich im Gegensatz zu seinen zum Ausdruck gebrachten Absichten noch weiter von seiner Umgebung ab und behandelt beispielsweise seine Frau und seine Schwester wie kleine Kinder, die der schützenden Hand des Gelehrten bedürften.

Winterschlaf Szene Aydın und seine Schwester

„Du benutzt deine Tugenden um die anderen zu ersticken!“

Es wäre allerdings falsch, Aydın pauschal als Tyrannen zu verurteilen: Im Gegenteil, er scheint bereit sich zu ändern und besonders während der ersten Hälfte des Films wechseln die Sympathien des Zuschauers ständig zwischen den beteiligten Figuren. Auch die Symbolik, als Aydın ein gefangenes Wildpferd in die Freiheit entlässt, spricht für ihn und deutet an, dass er seine Fehler einsieht und seine Frau nicht länger „zu ersticken“ versucht. Doch selbst wenn sich die beziehungstechnischen Herausforderungen klären, bleiben die scheinbar unüberwindbaren Widersprüche zwischen der wohlhabenden Familie Aydıns und der ländlichen, verarmten Bevölkerung des Dorfs bestehen. Denn selbst in dieser Hinsicht weicht der Mann nicht von seinen Verhaltensmustern der Abgrenzung und der Verurteilung anderer ab. Auch hier wird symbolisch deutlich: Aydın wohnt nicht umsonst auf dem Gipfel eines Berges und blickt auf das Dorf hinab. An diesem Gegensatz ändern auch die wohltätigen Aktionen Nihals wenig, die mit der Heirat einen beachtlichen Teil ihrer Freiheit für wirtschaftliche Sicherheit aufgegeben hat und sich anscheinend erst jetzt den Konsequenzen ihrer Entscheidung bewusst wird. Als Bewohnerin des sprichwörtlichen Elfenbeinturms sucht sie durch ihre Spendensammlungen einen neuen Sinn für ihr Leben, muss dabei allerdings die Erfahrung machen durch ihre gut gemeinten Gaben letztendlich auch den Zorn der Beschenkten auf sich zu ziehen.

Sehenswerte Filmkunst abseits des Mainstreams

Dass „Winterschlaf“ anders ist macht ihn nicht automatisch besser. Und doch: Wer die Gelegenheit bekommt, offen für Filmkunst abseits des Mainstreams ist und sich von der Laufzeit nicht abschrecken lässt, sollte Ceilans Werk unbedingt schauen. Das liegt zuallererst an den ausgeklügelten Dialogen, die – auch wenn sie scheinbar triviale und altbekannte Probleme zur Sprache bringen – uns soviel über die jeweils erzählende Figur verraten. Da „Winterschlaf“ auf Rückblenden verzichtet, sich die Problematik allerdings über einen recht langen Zeitraum erstreckt und besonders die Beziehung zwischen Aydın und Nihal ihre Anfänge schon lange in der Vergangenheit genommen hat, sind wir nämlich umso mehr auf die Erzählungen der Protagonisten angewiesen und müssen durchaus zwischen den Zeilen lesen; eine nicht immer einfache, aber umso spannendere Aufgabe, die nicht selten Raum für Diskussionen und sehr verschiedene Interpretationsansätze lässt.

Winterschlaf Szene Aydın im Auto

Die Westeuropäern weitgehend unbekannten Darsteller meistern die Herausforderung, sehr ambivalente Rollen zu verkörpern, mit Brillanz. Seien es das markante Gesicht Aydıns oder die versteckte Schönheit Nihals: Die Protagonisten bleiben dem Zuschauer spätestens nach drei Stunden im Gedächtnis hängen. In ihrer Ambivalenz bergen die Charaktere allerdings auch Ansatz zur Kritik: Besonders bei Aydın erscheint der Unterschied zwischen der Person, die uns in den ersten 30 Minuten des Streifens vorgestellt wird und dem Aydın, der mit einem einfachen Satz die ganze Arbeit seiner Frau im letzten Jahr zunichte macht, sehr krass und nicht mehr nur als Stilmittel. Aber auch Nihals Geschichte wirft Fragen auf: Wieso hat sie ihre eigene Freiheit und ihren Lebenstraum für ein Leben in wirtschaftlicher Sicherheit aufgegeben, das ihr nach einigen Jahren als zu beengt erscheint?

Letztlich erzählt „Winterschlaf“ mehrere Geschichten auf einmal: Die einer gescheiterten Ehe, die Geschichte einer Dorfgemeinschaft, deren selbsternannter Philosoph erkennen muss, dass sich die Welt auch ohne ihn weiter dreht sowie eine Parabel über die Verteilung von Macht und Reichtum. Ceilan bedient sich dabei allerdings nicht etwa bekannter Klischees, die unkritisch übernommen werden, sondern zeigt uns, dass auch Filmcharaktere vielschichtig sein können und es nicht immer einen Sympathieträger geben kann oder muss.

„Winterschlaf – Kis uykusu“ erscheint am 26. Juni auf DVD und Blu-ray

Alle Bilder: © 2014 ZeynoFilm

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