Filmkritik: Her (2014)

Martin 4. Mai 2014 5
Filmkritik: Her (2014)

„Her“ erzählt die unkonventielle Liebesgeschichte von Theodore und Samantha. Die Story ist deshalb so ungewöhnlich, weil sie, Samantha, eine künstliche Intelligenz ist. Und der Film ist deshalb so gut, weil das Drehbuch von Spike Jonze, der auch Regie führte, die Erzählung und ihre Figuren so konventionell und pragmatisch wie möglich angeht und annimmt.

Theodore arbeitet in einem Serviceunternehmen, das virtuell geschriebene Liebesbriefe für Leute abfasst. Bereits in der ersten Szene wird die tragende (körperliche) Filmfigur, von Joaquin Phoenix verkörpert, grandios eingeführt. Er verfasst einen von emotionaler Inbrunst strotzenden Brief, dass man später denken könnte, er kenne seine „Kunden“ besser als diese sich selbst. Wenn sich seine Qualitäten aber allein auf sein lyrisches Talent begrenzen würden, würde man ihm schnell auf die Festplatte steigen. Nein, nach Meinung eines Mitarbeiters schreibt er die schönsten, eben die einfühlsamsten Briefe. Sie kennen die Menschen, an die sie adressiert sind genauso gut wie ihren Verfasser. Theodore scheint durch diese Beschäftigung aber auch einer emotionalen Saugglocke ausgesetzt zu sein. Zumindestens wirkt er – mit wachsender Distanz zu seinem Schreibtisch – leer, abwesend, von Leidenschaft beraubt zu sein. Kurze Zeit später lernen wir den Grund seines Zustands: Er lebt seit kurzem von seiner Ehefrau Catherine (Rooney Mara) getrennt, die Scheidung mit ihr steht kurz bevor. Der Romantiker in ihm möchte an dieser Bindung festhalten und der Realist befürchtet, dieses Vakuum nicht mehr füllen zu können. Melancholie – Theodore verlangt von seinem Musikplayer ausdrücklich Songs, die einen solchen Ausdruck vermitteln – ist sein Lebensgefühl.

Zu diesem Punkt schafft er sich ein neues Betriebssystem an, das dem Nutzer eine Menüführung mitsamt künstlich lernender Intelligenz inklusive eigenem Bewusstsein verspricht. Er richtet sich es mit einer weiblichen Stimme ein, sie gibt sich selbst den Namen Samantha. Bereits ihre erste Handlung ist eigenbestimmt. Überrascht ist er davon, dass das Programm so natürlich auf seine Fragen einzugehen scheint und wie menschlich es dadurch wirkt. In der Folge wird eine auf den ersten Blick ganz normale Beziehung, mit den ihr eigenen Höhen und Tiefen erzählt, deren genauen Verlauf ich hier aber nicht vorwegnehmen möchte.

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Dadurch, dass Theodore das so geschaffene Wesen schnell zu akzeptieren und mit ihm „normal“ zu kommunizieren scheint, wird auch der Zuschauer schnell eingeladen, sich nicht nur mit ihm, sondern auch mit der so menschlich agierenden künstlichen Intelligenz zu identifizieren. Sie wird als eigenständige Persönlichkeit, im englischen von Scarlett Johannson gesprochen, etabliert. Wir folgen daher dem Witz – der Geschichte – und auch der Pointe, der Partnerin als künstliche Intelligenz, organisch. Sie ist sich ihrer virtuellen Existenz völlig bewusst und reflektiert offen darüber, hat Ängste, ist aber auch witzig und schlagfertig. Und sie kann außerdem, anders als Theordore, riesige Datenmengen in Millisekunden verarbeiten. Aber auch sie hat einen entscheidenden „Nachteil“ gegenüber Theodore. Obwohl sie fast im Raum greifbar scheint, bis zu einem gewissen Punkt Mensch ist, fehlt ihr ein Körper.

Der Charme und der nie in eine Satire abgleitende Witz des Films entstehen auch aus den sich aus dieser Konstellation ergebenden Situationen, zumal Theodore anderen Personen auch völlig entwaffend eingesteht, dass er eine Beziehung mit einem Betriebssystem führt. Solche Begebenheiten und sich daran anschließende Konsequenzen entbehren nicht immer einer gewissen Komik. Wie gestaltet sich etwa ein 2-Paare-Treffen, wenn nur drei Viertel aller Anwesenden wirklich „da“ sind, während eine Partnerin ihre Umgebung nur aus der Handykamera wahrnehmen kann, aber trotzdem völlig frei kommunizieren kann? Das Wort „Blind Date“ gewinnt da eine völlig neue Dimension.

Der Film ist immer wieder mit Groß- und Detailaufnahmen von Gesichtern besetzt, die es vor allem Joaquin Phoenix erlauben, durch sein Minenspiel die ihn ihm ablaufenden Prozesse darzustellen. Die Kamera fängt den Mix aus Retro-Möbel-Rotation und warmen Pastellfarben, die Szenerie einer minimalistischen Rückbesinnung, die im Kontrast dazu in eine hochmoderne Wolkenkratzerlandschaft eingebettet ist, großflächig ein. Es ist ein Abbild einer durchaus vorstellbaren und nicht mehr allzu weit entfernten Zukunft.

Die Schaffung dieser Betriebssysteme als auch ihr Verhalten spiegeln die Unergründlichkeit der menschlichen Natur wider. Mit einem Augenzwinkern hören wir der Geschichte von Amy (Amy Adams), einer Freundin Theodores, zu, die berichtet, dass Menschen anderer Leute Betriebssysteme ausspannen. Die Implikationen des Daseins dieser virtuellen Existenzen in einer Gesellschaft werden durch solche und ähnliche Anekdoten immer wieder hervorgehoben. Erstaunlich ist, dass die dadurch angestoßenen Gedankenspiele während der gesamten Spiellänge des Films wie eine Art Hintergrundprogramm beim Zuschauer mitlaufen. Wenn wir Rückblenden von Theodore mit seiner Ex-Frau betrachten und Samantha thematisiert, dass sie keinen Körper habe, kann das allein schon bei uns zu einer Unzahl an vielfältigen Fragen führen. Kann eine Beziehung zwischen Theodore und Samantha überhaupt funktionieren, wenn Theodore auf keine visuellen Erinnerungen zurückgreifen kann? Kann Samantha ohne einen Körper eine menschliche Identität ausbilden? Ist eine solche Beziehung der von Mensch zu Mensch gleichwertig? Ist eine derartige Bindung überhaupt möglich? Was heißt es überhaupt ein Mensch zu sein, wenn man durch eine Ansammlung von programmierten Befehlszeilen menschlich erscheinende Wesen nachbilden kann? Ist Samantha nun mehr Mensch oder Maschine – oder beides gleichzeitig? Wie würde eine solche Entität mit dem Älterwerden des menschlichen Körpers und Geistes ihres Partners umgehen?

Trailer zu „her“

FAZIT

In her steckt mehr Science-Fiction als viele Hollywood-Blockbuster vorzugeben scheinen. Ich habe gelesen, dass der Film mit einer Spielzeit von zwei Stunden von Kritikern als zu lang eingeordnet wird. Für mich würde ich das eher so umformulieren, dass innerhalb dieser Spielzeit die angesprochenen Sci-Fi-Elemente vielleicht etwas stärker in den Vordergrund hätten gerückt werden können. Das Ende wirkt zudem so, als hätte jemand kurz vor Erreichen der optimalen Rechnerleistung sanft den Stecker gezogen. Her ist insgesamt äußerst kurzweilig, charmant und regt zum Nachdenken an. Er gehört schon jetzt zu den besten Filmen im Jahr 2014.

Filmkritik: Her (2014)

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