Endlich Tacheles (2020) Kritik zum Dokumentarfilm: unverständlich, unmissverständlich.

Philipp Schmidt 19. Mai 2020 0
Endlich Tacheles (2020) Kritik zum Dokumentarfilm: unverständlich, unmissverständlich.

Vom 6. bis zum 24. Mai findet das alljährliche DOK.fest München statt. Und weil bekanntlich gerade außergewöhnliche Zustände herrschen, heißt es in diesem Jahr: „DOK.fest München @home“ (fabelhaft, diese Schreibweisen). Jedenfalls sind unter folgendem Link noch bis zum 24. Mai 121 Dokumentarfilme aus 42 Ländern bequem von zuhause aus zu sehen: https://www.dokfest-muenchen.de/Filmprogramm_2020

Einer dieser Filme ist Endlich Tacheles (2020) von Jana Matthes und Andrea Schramm. Vor wenigen Tagen feierte er auf dem DOK.fest München @home seine Weltpremiere. Die beiden Filmemacherinnen (2007 für Im Schatten der Blutrache mit dem Deutschen Fernsehpreis für den besten Dokumentarfilm ausgezeichnet) begleiten darin den jungen jüdischen Gamedesign-Studenten Yaar. Zusammen mit zwei Kommilitonen – Freundin Sarah und Kumpel Marcel – will er ein Videospiel entwickeln, in dem der Spieler jüdische und nationalsozialistische Perspektiven einnimmt und den Lauf der Dinge verändern kann. Denn für die Drei sind zementierte Rollenverteilungen (Täter und Opfer) hinfällig. Sie möchten mit dem Spiel einen positiven Anschluss an den Holocaust schaffen, eine Basis für die Versöhnung nachfolgender Generationen. Vorbild für eine der Spielfiguren soll Yaars Großmutter sein, deren Bruder von den Nazis ermordet wurde. Die andere Spielfigur soll an einen Vorfahren Marcels angelehnt sein: einen SS-Offizier.

Die Entwicklung des Videospiels ist Ausgangspunkt für Yaars intensive Auseinandersetzung mit der eigenen Familiengeschichte. Er möchte verstehen, warum sein Vater und seine Mutter, die den Holocaust nicht persönlich erlebt haben, nach wie vor darunter leiden und den Schmerz an seine Generation „weitergeben“. Gleichzeitig kämpft Yaar als junger Jude, für den die NS-Verbrechen und das Leid seiner Vorfahren abstrakt sind, für seine eigene Haltung zur Vergangenheit. Die Reise in die Geschichte ist auch die Suche nach Identität. Über mehrere Jahre haben die Filmemacherinnen Yaar dabei begleitet.

Heraus gekommen ist die eindrückliche Dokumentation seiner Entwicklung: vom naiven, unbedarften Studenten zum jungen Mann, der sein persönliches Verhältnis zum Schicksal der eigenen Familie und zur Geschichte findet. Die Filmemacherinnen gehen dabei fast immer zurückhaltend vor: keine Interview-Szenen, kein Off-Kommentar und praktisch keine Text-Einblendungen. Trotzdem wirken die Gespräche der Akteure nicht immer authentisch: Man spürt, wie die Präsenz der Kamera Gespräche beeinflusst. Das ändert aber nichts daran, dass wir als Zuschauer an intimer Kommunikation teilhaben – und es mit einer Gemeinschaft von Personen zu tun haben, die aufrichtig und konstruktiv kommunizieren. Das ist hier und da befremdlich – wahrscheinlich, weil es alles andere als selbstverständlich ist.

Überhaupt geht es nicht darum, zu beurteilen, wie Yaar, seine Familie und seine Freunde mit ihrer Vergangenheit und der Geschichte umgehen. Dazu haben wir kein Recht. Wir können nur beurteilen, wie der Film geworden ist, den Jana Matthes und Andrea Schramm darüber gemacht haben. Und der ist richtig gut geworden – gerade durch deren Zurückhaltung!

Aber: Endlich Tacheles transportiert an vielen Stellen natürlich trotzdem die Sichtweisen der Filmemacherinnen. Und hier widersprechen sie sich. Die vermeintliche Blauäugigkeit des Videospielprojekts stellen sie anfangs plakativ zur Schau, indem die drei Studenten beim Bummelbahn-Fahren durch das ehemalige jüdische Viertel Krakaus gezeigt werden und beim Nazi-Reliquien-Shopping auf dem Souvenirmarkt: naive Geschichtstouristen, mit denen jemand „endlich Tacheles“ reden muss.

Als die angehenden Gamedesigner dem SS-Offizier im Spiel dann auch noch menschliche Züge geben wollen, fühlen sich Matthes und Schramm dazu berufen, den jungen Leuten auf den aus ihrer Sicht rechten Weg zu verhelfen. Zum einzigen Mal melden sie sich aus dem Off zu Wort und fordern, „Endlich Tacheles“ zu reden: Die Juden seien nunmal Opfer gewesen und die Deutschen Täter. „Das ist so gewesen!“, fassen sie zusammen. Ob das in allen Einzelfällen wahr ist, können wir nicht beurteilen. Aber: Was ist denn gegen eine Videospiel-Figur einzuwenden, die ambivalent ist, gegen einen (noch dazu fiktiven) Täter mit menschlichen Zügen? Beinahe stehen die Filmemacherinnen im Clinch mit ihren Akteuren.

Yaar jedenfalls spürt am historischen Schauplatz Krakau und auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers Plaszow dann doch noch die Last der Geschichte. Er akzeptiert das Leid, das in seiner Familie fortwirkt. So versöhnt er sich auch mit seinem Vater. Gemeinsam versuchen sie, fast investigativ eine zentrale Leerstelle ihrer Familiengeschichte zu schließen: Was genau passierte mit Roman, dem Bruder von Yaars Großmutter und warum hat sie so lange darüber geschwiegen? Aus Erinnerungen seiner Schwester, davon abweichenden Schilderungen der Nachfahren von Augenzeugen und Rückschlüssen von Yaars Vater entsteht ein konsistentes Bild von der Ermordung Romans. „Endlich Tacheles“ also?

Nicht ganz. Denn dem entgegen lässt der letzte Teil den Titel „Endlich Tacheles!“ auch ironisch lesen – als frommen Wunsch: Es gibt kein Tacheles, keine schlüssige Erzählung, kein Gedicht und kein Bild vom Schrecken. Alles bleibt Annäherung. Je mehr Yaar herausfindet, desto weniger ist er von der Idee des Videospiels überzeugt. Er möchte „die Wahrheit“ nicht verfälschen und weiß gar nicht mehr, welche „Message“, welche Moral das Spiel überhaupt noch transportieren könnte. Und beim Figuren-Design merken die Drei, dass sie zwangsläufig Klischees aufsitzen.

Gleiches gilt für die Umstände von Romans Ermordung: Was die Familie letztlich hat, ist eine plausible Erzählung dessen, was passiert sein soll. Wir haben keinen Anlass, sie zu bezweifeln, aber auch keinen Beweis für ihre Wahrheit. Den braucht es auch nicht: Romans Ermordung mag unverständlich sein, in ihrer Endgültigkeit ist sie unmissverständlich. Alles, was wir mit Sicherheit wissen: Sie hat Yaars Großmutter und ihre Kinder nie mehr zur Ruhe kommen lassen.

Wenngleich sich die Filmemacherinnen mit der Haltung zu ihrer Geschichte teils also widersprechen: Endlich Tacheles ist ein starker Beitrag über junge Menschen – Nachfahren von Tätern, Opfern und solchen dazwischen, die versuchen, ein Verhältnis zur Vergangenheit aufzubauen, das authentisch ist und vor Wiederholung schützt. Der Film führt uns vor Augen: Natürlich gibt es historische Fakten, Schuld und Täter ebenso wie Opfer. Der Holocaust ist unmissverständlich und darüber muss man „Tacheles“ reden. Gleichwohl bleibt die Unendlichkeit von Einzelfällen, Schicksalen und Motiven oft unverständlich – und Klartext oder „Tacheles“ darüber kann es nicht geben. Gerade diese Spannung macht Endlich Tacheles reizvoll.

Bleibt noch der schöne Soundtrack von unter anderen The Notwist zu erwähnen, der Yaars Entwicklung nachzuzeichnen scheint: von „Trashed Places“ zu Beginn hin zu „Off The Rails“ am Schluss. Da drängen sich natürlich Assoziationen auf: Zu einfache Interpretationen führen auf den Holzweg wie Schienen – die man letztlich für den eigenen Weg zurücklassen muss. So wird alles in allem aus Endlich Tacheles ein dokumentarisches Kunstwerk, das neue Perspektiven auf ein vielbeanspruchtes Thema eröffnet und zum Nachdenken anregt. Was kann man mehr erwarten?

Also: Noch bis zum 24.05. läppische 5,50 Euro in die Hand nehmen, https://www.dokfest-muenchen.de/Filmprogramm_2020 besuchen, Endlich Tacheles schauen und damit auch noch DOK.fest-Partnerkinos unterstützen!

Beitragsbild & Video (c) HANFGARN & UFER // SCHRAMM MATTHES FILM.

 

 

Endlich Tacheles (2020) Kritik zum Dokumentarfilm: unverständlich, unmissverständlich.

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