GLITZER UND STAUB (2020): Kritik zum Dokumentarfilm. Bullenritt durch ein gespaltenes Amerika.

Philipp Schmidt 3. Oktober 2020 0
GLITZER UND STAUB (2020): Kritik zum Dokumentarfilm. Bullenritt durch ein gespaltenes Amerika.

„Es ist kein echtes Bullenreiten, wenn es jeder alte Fettsack oder irgendein Mädchen kann.“, stellt Trey King klar. Der Texaner züchtet Bullen fürs Rodeo und seine Sicht der Dinge ist wohl repräsentativ für die konservative Bullriding-Szene in Texas und Arizona. Mädchen und Frauen haben es da nicht leicht. Trotzdem will die kleine Maysun, Treys Tochter, nichts anderes werden als ein „echtes“ Cowgirl. Nichts kann sie davon abbringen – auch nicht die angestaubten Ansichten ihres Vaters.

Maysun ist eine von vier Protagonistinnen in Anna Kochs und Julia Lemkes neuem Dokumentarfilm Glitzer & Staub (2020), der in diesem Jahr beim 41. Filmfestival Max Ophüls Preis in Saarbrücken uraufgeführt wurde. Daneben lernen wir Ariyana Escobedo ebenso kennen wie die beiden Schwestern Altraykia und Tatyanna Shorty Begay. Was alle vier verbindet: Sie leben mit ihren Familien im kargen Niemandsland der südwestlichen USA, wo es nicht viel Unterhaltung gibt. Alle vier sind junge Mädchen, die mit der Begeisterung für das Bullenreiten erzogen werden und die sich in der Männerdomäne durchsetzen müssen.

Die Macherinnen von Glitzer & Staub, Julia Lemke und Anna Koch, haben bereits mit Schultersieg (2016) (bei den Hofer Filmtagen ausgezeichnet) Mädchen und junge Frauen portraitiert, die allen Widerständen zum Trotz ihren eigenen Weg gehen. Jetzt, vier Jahre später, bleiben sie gewissermaßen ihrem Thema treu. Und sie treten als Urheberinnen des Films hinter die Akteure vor der Kamera zurück: Wir hören keine Erzählung aus dem Off. Abgesehen von wenigen Zwischentiteln, die uns sagen, wo wir uns befinden und wen wir sehen, gibt es keine erklärenden Texte im Bild. Julia Lemkes Kamera begleitet das Geschehen zurückhaltend und trotzdem nah an den Protagonistinnen, die für sich selbst sprechen. Und sie bleibt nah an den Tieren: In Zwischeneinstellungen sehen wir deren gewaltige Muskeln und hören ihr Schnauben. Es sind diese Momente, in denen Glitzer & Staub metaphorische Qualität bekommt: Die Bullen stehen für die Unberechenbarkeiten des Lebens – sie sind Agenten des Chaos. Der Ritt auf den flankenstarken Tieren, so legen uns Koch und Lemke nahe, steht für den alltäglichen Kampf für ein gutes Leben. Eine Perspektive, die der Film dabei nicht unbedingt eröffnet: Die Bullen – von den Mädchen wie von Älteren gerne als „böse“, „gemein“ und „gefährlich“ bezeichnet – sind keine Naturgewalten. Sie sind gezüchtet und damit selbstgesetzt: nur zum (lebensgefährlichen) Spielen.

Je öfter man diese Bullen sieht, wie sie mit ihren Reiterinnen und Reitern eingepfercht darauf warten, losgelassen zu werden, zu explodieren, desto deutlicher wird: Glitzer & Staub erzählt zwar berührende dokumentarische Coming-of-Age-Geschichten. Aber es ist vor allem auch ein diagnostischer, ein ethnografischer Blick auf ein Land tiefer Gegensätze: archaisch und modern und zum Zerreißen gespannt. Die Tiere bekommen so noch eine weitere symbolische Dimension: Ihre zuckenden Muskeln, ihr Buckeln und ihr Schnauben vergegenwärtigen die Kräfte, die in den Gräben der amerikanischen Gesellschaft wirken – verursacht durch die Tektonik auseinanderdriftender Milieus, politischer Lager, Geschlechter, Rassen und Schichten.

Eindrucksvoll, wie Koch und Lemke ein breites Sprektrum von Kontrasten subtil neben den Coming-of-Age-Stories auffächern. Die Kluft zwischen arm und reich tut sich zwischen der wohlhabenden texanischen Züchter-Familie King und den Begays auf, die im Navajo-Indiander-Reservat leben und die letzten Dollars fürs Tierfutter zusammenkratzen müssen. Es geht aber auch um die Integration von Moderne und Tradition, wie Bilder von Drohnen über den Koppeln bezeugen oder junge Mädchen, die nicht wissen, ob sie Cowboys oder ihre Smartphones anhimmeln sollen. Die Nachfahren der Ureinwohner und die der weißen Siedler – beide Communities suchen in der Spiritualität (im Tipi wie in der Kirche) einen Ausgleich zur kapitalistischen Leistungsgesellschaft. Alt und jung, Männer und Frauen, Glitzer und Staub: Überall reiben sich in der Wüste von Texas und Arizona die Gegensätze aneinander.

Sie alle treffen letztlich in den Rodeo-Arenen aufeinander. Die dabei entstehende Energie scheint sich in den halsbrecherischen Bullenritten zu entladen. Man hat den Eindruck, die Cowboys und Cowgirls in Glitzer & Staub seien sich dessen bewusst. Es scheint, als wüssten sie, dass Rodeo ein dringend benötigter Kitt ist – der letzte vielleicht, der sie noch zusammenhält.

Die Stärke von Glitzer & Staub liegt letztlich darin, dass es Julia Lemke und Anna Koch bei der Beobachtung aller Kontraste gelingt, Schwarz-Weiß-Zeichnungen zu vermeiden. Sie geben ihren Akteuren genügend Raum und Zeit zum Sprechen, damit Zitate wie das eingangs erwähnte nicht (wie in dieser Besprechung) aus ihrem Kontext gerissen werden. So reflektiert King unmittelbar nach der „Fettsack und Mädchen“-Aussage über das Rodeo-Reiten: „Klar, es gibt auch noch andere Sachen auf der Welt. Aber es ist eben eine der besten Sachen in unserer Welt – unserer kleinen Welt.“ Die Mädchen – so viel sei verraten – ziehen unterschiedliche Konsequenzen aus ihren Erfahrungen. Koch und Lemke bewerten nicht, welchen Weg sie am Ende einschlagen. Sie zelebrieren, dass sie sich für den jeweils eigenen entscheiden. Das ist sehr erfrischend!

Glitzer & Staub läuft ab dem 29. Oktober 2020 in den deutschen Kinos.

Beitragsbild & Video (c) Port Au Prince Film.

 

GLITZER UND STAUB (2020): Kritik zum Dokumentarfilm. Bullenritt durch ein gespaltenes Amerika.

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