Filmkritik SIBERIA: Die Geister tanzen weiter

Janick Nolting 1. März 2020 0
Filmkritik SIBERIA: Die Geister tanzen weiter

Abel Ferrara ist mit sich selbst offenbar noch nicht im Reinen! Bereits in seinem letzten Film, „Tommaso und der Tanz der Geister“ hat sich das italienische Regie-enfant-terrible den eigenen Dämonen gestellt. Als sein alter Ego spielte Schauspieler Willem Dafoe an der Seite von Ferraras Familie in dessen früheren Wohnung in Rom die Hauptrolle, ein wahnsinnig sperriger Gefühlsausbruch, ein gescheiterter Versuch, einen Mittelweg zwischen Karriere und Familie zu finden. In „Siberia“ führt Ferrara den Exorzismus an der eigenen Person quasi in einer Art Sequel direkt fort und wendet sich dabei immer mehr vom Publikum ab.

Wieder ist es Willem Dafoe, der als gebrochener Mann mit sich selbst hadert. Dieses Mal jedoch nicht in der Großstadt, sondern in einer eingeschneiten Berghütte. Ab und zu kommen Gäste zu ihm, trinken, scherzen, reden in fremden Sprachen und verschwinden dann wieder. Ständige Begleiter sind nur die Schlittenhunde des älteren Mannes. Archaischer könnte also das Szenario kaum sein: Mensch und Tier, fernab jeglicher Zivilisation, nur die rohe Wildnis überall.

Ein albtraumhafter Rausch

„Siberia“ verharrt nie lange am gleichen Ort. Gerade glaubt man, sich in der düsteren Berghütte heimisch zu fühlen, da zieht Willem Dafoe mit seinen Huskys aus in die Welt. Es folgt eine fast anderthalbstündige Odyssee durch die Wildnis, Zeit und Raum lösen sich auf und damit eines herzliches Willkommen in den Albträumen des Abel Ferrara! Im einen Moment zieht Dafoe durch den Schneesturm als schwarzer Fleck auf der weißen Leinwand, im nächsten Moment tapst er durch den heißen Wüstensand. Immer wieder tauchen die inneren Dämonen auf, der Vater etwa, dessen Ansprüche Dafoes Figur nie erfüllen konnte, seine verflossene Geliebte, mit der er ein Kind gezeugt hat. Es sind verstörende Begegnungen. Es sind erotische Begnungen, gewaltvolle und schwelgerische. Immer wieder begibt sich „Siberia“ auch in das Horrorgenre mit seinen unheimlichen, surrealen Visionen. Okay, was die extremen KZ-Hinrichtungsszenen im Film zu suchen haben und was Ferrara dazu bewegt, kleinwüchsige und verstümmelte Frauenkörper als Horrorgestalten auszustellen, bleiben einige von vielen ungelösten Fragen.

Ferraras Höhlengleichnis

Mehrfach zieht es Willem Dafoe in eine finstere Höhle, wo ihm die Irrlichter seines Inneren begegnen. Wie in Platons Höhlengleichnis erscheinen sie vor den dunklen Felswänden, treten in den verschroben durchkomponierten Bildern aus der Dunkelheit und da liegt die eigentlich inszenatorische Faszination dieses Films, indem Ferrara nämlich im Grunde genommen zum Ursprung des Kinos zurückkehrt, wenn man denn Platons Schattenwürfe an der Wand so deuten möchte. Wie in dem Gleichnis geht es auch in „Siberia“ um die Erkenntnis des Wahrhaftigen und damit in diesem Fall der Aufarbeitung der eigenen Geschichte, das Vertreiben der trügerischen, traumatischen Visionen. Nur, dass bei Ferrara die Sonne nicht außerhalb, sondern innerhalb der Höhle aufgeht. Das beeindruckendste Bild des Films! Der Akt des Erkennens wird hier immer wieder thematisiert, eine Brille wird wie ein magisches Totem weitergereicht. Von Vater zu Sohn etwa, die Willem Dafoe beide selbst verkörpert.

Doch was erkennt eigentlich das Publikum in diesen 90 minütigen Trip? Nun ja, eigentlich nicht besonders viel, zumindest nicht, wenn man keine Lust hat, nach Parallelen und Verweisen zu Biographie und Werk des Regisseurs zu suchen. „Siberia“ ist noch kryptischer geraten als der ohnehin schon schwer verdauliche „Tommaso“, doch es ist auch ein Film, der einen solch atmosphärischen Sog entwickelt, dass man sich auch einfach dem ästhetischen Rauschzustand hingeben kann. Tod, Fäulnis, Tierkämpfe, Familienszenen, Sex und sprechende Fische: Ferrara fährt ein Kuriositätenkabinett auf. Zwischendurch kämpft Dafoe mit einem Bären, später tanzt er mit Kindern um einen Maibaum. Eine Szene, die auch das Bewerbungsvideo für eine Fortsetzung von Ari Asters „Midsommar“ sein könnte. Das ist in seinen Provokationen etwas selbstzweckhaft und übertrieben, doch hat man von dem Ex-„Bohrmaschinen-Killer“ wirklich etwas anderes erwartet?

Fazit:

Mit „Siberia“ hat sich Abel Ferrara wohl endgültig vom Erzählkino verabschiedet. Ein wahnhafter, fiebriger Horrortrip. Verstörend, berauschend, zum Teil komisch, aber insgesamt leider auch etwas banal!

3/5 Sterne

Bild Copyright: Port Au Prince Pictures 2020

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