„Marvel’s Jessica Jones“ (2015) Staffel 1 Kritik: Kein Alkohol ist auch keine Lösung

Bernhard 16. Dezember 2015 2
„Marvel’s Jessica Jones“ (2015) Staffel 1 Kritik: Kein Alkohol ist auch keine Lösung

Marvels „Cinematic Universe“ nimmt immer mehr Gestalt an: Nach diversen Kinoproduktionen war Anfang 2015 schon die als Teil der „Defenders“-Reihe laufende Netflix-Originalserie „Daredevil“ zu sehen gewesen. „Jessica Jones“ ist die zweite Serie der Kooperation von Netflix und Marvel und macht uns mit der gleichnamigen alkoholaffinen, schlecht gelaunten Privatdetektivin (Krysten Ritter) bekannt, die mit relativ unspektakulären Superkräften ausgestattet ist: Sie ist schlicht übermenschlich stark und kann sehr weit und hoch springen.

In New York verdient sie ihren Lebensunterhalt, indem sie für eifersüchtige Ehepartner spioniert oder vermisste Personen findet. Genauso erfolgreich wie lakonisch lässt sie sowohl Klienten wie Fremde ihre Misanthropie spüren. Ihr Leben gerät allerdings aus den Fugen, als sie mit den Dämonen ihrer Vergangenheit konfrontiert wird: Ein Mädchen, dass sie aufspürt, erschießt nach dem glücklichen Wiedersehen die beiden Eltern. Sie steht dabei unter dem Einfluss von Kilgrave (David Tennant), der die Gedanken seiner Mitmenschen durch bloße verbale Aufforderung kontrollieren kann. Jessica selbst stand einst unter seinem Einfluss und musste sogar wegen seiner Befehle töten. Um die Unschuld des Mädchens zu beweisen, stellt sich Jessica erneut ihrem schlimmsten Feind. Ein brutales Katz-und-Maus-Spiel beginnt, bei dem fast alle Personen um Jessica in Gefahr geraten: Sowohl ihr drogenabhängiger Nachbar Malcom (Eka Darville) und Luke Cage (Mike Colter), der wie Jessica besondere Kräfte besitzt, als auch ihre Pflegeschwester und beste Patricia „Trish“ Walker (Rachael Taylor). Je mehr Jessica versucht, ihre Liebsten zu schützen, desto schneller gerät sie in das von Kilgrave ausgelegte Spinnennetz von Tod und Gewalt.

„Jessica Jones“ lebt vor allem von dem fulminanten Duell zwischen den Antagonisten Jessica und Kilgrave. Während jene ihren einstigen Peiniger lebend braucht, um ihm ein Geständnis seiner Fähigkeiten zu entlocken, ist dieser davon besessen, die Privatermittlerin wieder unter seine Kontrolle zu bekommen. So entwickelt sich ein beklemmendes Kammerspiel vor New Yorker Kulisse. Jessica, durch einen ungeregelten Tagesablauf aber regelmäßigen Alkoholkonsum schon nervös und gereizt, wird mit einer ständigen Paranoia herausgefordert, da Kilgrave immer wieder Leute in ihrem Umfeld dazu zwingt, sie auszuspionieren, sich selbst umzubringen, oder anderweitig Unfrieden stiftet. Da die junge Frau von einer inneren Zerissenheit geplagt wird, auf der einen Seite ihre Kräfte für das Gute zu nutzen, auf der anderen Seite aber nicht in Kilgraves Fänge zu geraten, verfolgt sie keine geradlinige Handlungsmaxime.

Marvel's Jessica Jones - Purple Man (c) NetflixBritischer Bösewicht: Kilgrave (David Tennant)

Kilgrave selbst ist der vielleicht flamboyanteste Bösewicht im ganzen Marveluniversum: Als Psychopath hat er kein Problem damit, die Leben seiner Mitmenschen zu zerstören oder durch einen bloßen Ausruf zu beenden, andererseits hat er einen perversen Sinn für Humor und eine gewisse gewinnende Art. Anders als in typischen Marvel-Produktionen, wo sich alles auf einen finalen Kampf hin entwickeln, interagieren Jessica und Kilgrave fast kontinuierlich miteinander. Das zeichnet den Charakter des „Marionettenspielers“ viel nahbarer und tiefgründiger. Die Beziehung der beiden, auf ihrer Seite eine Aversion, auf seiner eine Obsession, öffnet sich immer weiter und wird ständig absurder.

Ist das geschilderte Duell wahrlich packend, so weiß der Nebencast leider nicht auf gleicher Ebene zu überzeugen: Während Ritter und Tennant ihre beiden Misfits mit einer düsteren Ironie würzen, wirken Taylor als Trish oder auch ihr Freund Simpson (Will Traval) zu konformistisch und eindimensional.

Allerdings: Innovativ an „Jessica Jones“ ist vor allem, dass der Serie genügend Raum gegeben wird, sich zu entfalten. Querverweise zu anderen Marvel-Filmen und –Figuren sind selten und die schwächsten Momente von „Jessica Jones“, weil sie sehr künstlich wirken. Zwar wird es nur eine Frage der Zeit sein, bis sich Jessica Jones an der Seite anderer Marvelhelden wiederfindet, doch in der ersten Staffel führt die Distanz zu einer gehörigen Qualitätssteigerung, weil so die der Serie eigene ironisch-pessimistische Grundstimmung erhalten bleibt. Zu dieser trägt auch die exzessive Gewalt bei, der Jessica meist mit verbissenem Blick und einem Schluck aus der Flasche begegnet.

„Jessica Jones“ ist sehenswert aufgrund des einmaligen Gegenspieler-Duos Ritter und Tennant, aber auch weil sich die Serie genug Mut leistet, dem Happy End an vielen Stellen aus dem Weg zu gehen und ein gelungener Gegenentwurf zum marvelschen „Helden-schaffen-alles“-Mantra ist. Gänsehaut beim Finale inklusive.

Beitragsbild und Video (c) Netflix