„Fuocoammare (Fire at Sea)“: Kritik der Berlinale-Doku über die Lampedusa-Flüchtlinge

Nadine Emmerich 13. Februar 2016 0
„Fuocoammare (Fire at Sea)“: Kritik der Berlinale-Doku über die Lampedusa-Flüchtlinge

Es sind Parallelwelten: Das beschauliche Leben der Einwohner Lampedusas und das Schicksal der Flüchtlinge, welche die Mittelmeerinsel zwischen Tunesien und Sizilien fast täglich völlig entkräftet erreichen. Der Italiener Gianfranco Rosi hat beide Welten in seinem neuen Dokumentarfilm „Fuocoammare (Fire at Sea)“ vereint und damit einen Kontrast geschaffen, wie er kaum größer sein könnte.

Die Doku feierte am Samstagnachmittag bei der Berlinale ihre Weltpremiere. Bei der Pressevorführung bekam der Wettbewerbsbeitrag zuvor so viel Publikumsapplaus, dass man wohl feststellen kann: Rosi, dessen Städteporträt „Das andere Rom“ 2013 in Venedig als erste Dokumentation mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet wurde, könnte sich mit seiner neuen Regiearbeit für einen Bären empfohlen haben.

Die Handlung, für die Rosi zwei Jahre lang auf Lampedusa drehte: Der zwölfjährige Samuele hat das, was man eine unbeschwerte Kindheit nennt. Er klettert auf Bäume, schnitzt Steinschleudern und spielt mit seinem Freund Krieg gegen Kakteen. Die Kamera begleitet ihn in die Schule, zum Augenarzt, beim Abendessen mit der Familie. Oma kocht Fischsuppe und ein Radiomoderator spielt Hörerwünsche – zum Beispiel das Lied „Fuocoammare (Fire at Sea)“, für die Fischer, die bei schlechtem Wetter nichts aufs Meer raus können.

Während die Fischer aber nur ein paar Einnahmen verlieren, lassen viele der Flüchtlinge aus Afrika und Nahost auf See ihr Leben. Schätzungen zufolge sind 25.000 Flüchtlinge seit dem Jahr 2000 im Mittelmeer ertrunken. Die Küstenwache auf Lampedusa kämpft täglich um ihr Leben – eine Sisyphusaufgabe. Rosis Kamera ist dabei, wenn die SOS-Funksprüche ankommen und später die erschöpften Neuankömmlinge registriert werden. Ein Arzt erzählt, dass er schon viel zu viele Tote gesehen habe – darunter Frauen, die auf See entbunden haben und mit der Nabelschnur noch mit ihrem ebenfalls toten Kind verbunden sind. Viele junge Männer haben schwere, durch Treibstoff verursachte chemische Verbrennungen.

Film muss sich von TV-Nachrichten abheben

Ungeachtet dessen schwebt eine unglaubliche Ruhe über der Insel. Bewohner, die über das Elend der Flüchtlinge sprechen, hat der Regisseur nicht eingefangen. Auch die Geschichte Samueles, die Rosi parallel präsentiert, findet keine Überschneidungen mit der Tragödie der Menschen aus den Booten. So bleibt offen, wie viel beide Seiten voneinander mitbekommen. Oder geht doch nicht spurlos an Samuele vorbei, was auf seiner Heimatinsel geschieht? Der Zuschauer begleitet den Jungen zum Arzt, bei dem er klagt, er habe oft so wenig Luft zum Atmen. Der Mediziner stellt fest: Alles in Ordnung, vielleicht bist du nur zu ängstlich.

„Fuocoammare (Fire at Sea)“ scheint zunächst einen Fokus auf das Leben Samueles zu legen. Doch der Eindruck kippt spätestens, als reihenweise Leichensäcke geschnürt werden. Lampedusa ist schon lange keine idyllische Trauminsel mehr, sondern seit Jahren im permanenten Ausnahmezustand. Das aktuelle Weltgeschehen hat sich breit gemacht und wird so schnell nicht gehen. Und das wissen wir aus den Nachrichten: Was in der Welt passiert, ist häufig nicht gut.

Die Nachrichten sind es auch, deren große Konkurrenz Rosi mit seinem Film ausstechen musste. Schließlich kennt der Zuschauer die Bilder der Bootsflüchtlinge aus unzähligen Berichten nur zu gut. Nochmal das Gleiche könnte auf der großen Leinwand nur schwer bestehen. Doch dem Regisseur – 1964 selbst in Eritrea geboren und mit 13 Jahren während des Unabhängigkeitskrieges ohne seine Eltern in Italien gelandet – gelingt das Kunststück des neuen Blicks – und zwar ohne jeden Kommentar. Er lässt das Publikum nachdenklich zurück: Eine Insel, zwei Welten, keine Verbindung. Bei der Pressekonferenz am Samstag betonte Rosi jedoch: „Wir sind alle verantwortlich.“

Kinostart: noch kein Starttermin in Deutschland.

(c) Foto: Samuele Pucillo

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