Boyhood Kritik (2014): Meisterwerk oder professionelles Familienvideo?

Max Christ 18. Februar 2015 2
Boyhood Kritik (2014): Meisterwerk oder professionelles Familienvideo?

Die Handlung von Richard Linklaters „Boyhood“, der vor allem durch seine Before-Trilogie mit Julie Delphy und Ethan Hawke, bekannt ist, löst weder Begeisterungsstürme aus, bietet kaum Überraschungen und kann ohne Zweifel als vorhersehbar und gewöhnlich bezeichnet werden. Immerhin ist es die Handlung, die fast jeder Mensch am eigenen Leibe erfahren hat. Im Alter von sechs Jahren besuchten wir alle das erste Mal die Schule, haben Freundschaften geschlossen und Zeit mit unserer Familie verbracht. Dann nahm das Leben seinen Lauf, wir wechselten die Schule, zogen eventuell um, erlebten die Trennung unserer Eltern, mussten einen fremden Mann oder eine fremde Frau als neues Mitglied der Familie akzeptieren, unternahmen Ausflüge und besuchten Geburtstagsfeiern. Wir lernten das erste Mal was Liebe und was Liebeskummer bedeutet, schmeckten Alkohol, Zigaretten und andere Drogen und eines Tages besangen wir unseren Schulabschluss, verließen wir das Elternhaus, begaben uns auf die Suche nach Arbeit oder wie im Film „Boyhood“, begannen mit 18 Jahren unseren Besuch der Universität. Das ist die Geschichte unserer Kindheit und Jugend und das ist die Geschichte von Mason (Ellar Coltrane), den wir in seinen jungen Jahren begleiten, und seiner Familie, der Schwester Samantha (Lorelei Linklater), kurz Sam, und ihren geschiedenen Eltern, gespielt von Patricia Arquette und Ethan Hawke, die den ganzen Film über nur Mom und Dad genannt werden.

Richard Linklater hat mit diesem, mit sechs Oscars (u.a. Film, NebendarstellerIn, Regie)  nominierten und drei Golden Globes (Drama, Regie, Nebendarstellerin) ausgezeichneten, Werk nicht nur den Werdegang von Mason und seinem Umfeld abgebildet, sondern auch den Wandel der Personen hinten den Charakteren. „Boyhood“ ist nämlich keine einfache Coming-of-Age-Geschichte, sondern ein bahnbrechendes Experiment, ein Triumpf der Kinogeschichte. So verwirklichte Linklater seine Geschichte, mit wenigen Aufnahmen pro Jahr, und fügte diese von 2002-2013 festgenommenen Momente zu einem fast drei-stündigen Epos zusammen.

„Boyhood“, der laut Linklater genauso gut auch „Motherhood“ heißen könnte, enthüllt seinem Publikum eine Reise durch die Vergangenheit. Nicht nur in die Vergangenheit der Charaktere und ihrer Schauspieler, sondern in die Vergangenheit jedes einzelnen Besuchers. Jeder Besucher versteht diesen Film, jeder Besucher findet sich in gewissen Szenen wieder, jeder Besucher erinnert sich an seine eigene Kindheit, jeder Besucher darf nochmal seine Jugend erleben. Und da das Leben kein Make-up trägt, wird der Kinogänger mit Pickeln, Akne und anderen Unschönheiten konfrontiert. Und da das Leben kein Drehbuch ist, liefen viele Szenen ohne Skript ab und da man sich im Leben noch so viele Ziele setzen kann, die dann doch nicht erfüllt werden, ist Linklater spontan mit der Zeit gegangen und hat im Laufe der Entwicklung des Films den Film geschrieben.

Ist der große Oscar-Anwärter nun ein Glanzstück des amerikanischen Independent-Kinos oder eine ermüdende Semi-Dokumentation über das Erwachsenwerden?

Die großen Filmportale sind sich einig (100/100 Metascore, 98% Tomatometer, 8,2 IMDb) und auch die Kinobesucher geben Linklaters neuestem Werk Top-Bewertungen. Doch dennoch finden sich oft Unkenrufe, die ihm vorwerfen, er habe keinen Inhalt („Nothing happens and it takes 3 hours“ 1/10), sei ein langweiliges, ereignisloses Nichts („A boring, uneventful nothingness“ 1/10) oder würde einfach keinen Spaß machen.

Und genau da liegt auch das große Problem, welches „Boyhood“ hat. Es ist kein Film im klassischen Sinne, der überzeugende schauspielerische Leistungen bietet – auch wenn alle Schauspieler zu überzeugen wissen – oder uns in eine fremde Welt entführt, die uns mit einer interessanten, wendungsreichen Geschichte aus dem Trott unserer Alltags reißt und die Probleme im Studium, in der Familie oder auf der Arbeit vergessen lässt.

„Boyhood“ ist kein Unterhaltungsmedium im herkömmlichen Sinne, er macht nicht Spaß und unterhält uns. Doch muss wirklich jeder Film so sein wie der nächste? Muss wirklich jeder Film jedem gefallen? Nein! Denn „Boyhood“ macht mehr als unterhalten, „Boyhood“ befriedigt auf einer tieferen Ebene. „Boyhood“ ist lebendig, tief, emotional, wirksam. Die Botschaft von „Boyhood“ geht direkt ins Herz ein. „Boyhood“ bin ich, bist du, ist dein bester Freund. „Boyhood“ sind wir alle.

„Boyhood“ lässt uns fragen, was wir in unserem Leben richtig und falsch gemacht haben, was wir bereuen, was die Höhen und Tiefen unseres Lebens waren. In „Boyhood“ wird die Frage gestellt „Who do you wanna be, Mason? What do you wanna do?” und “Boyhood” stellt uns die Frage, ob wir unsere Antwort erfüllt haben und unsere jugendliche Faszination und Weltoffenheit noch immer besitzen.

Dieser Artikel sollte keine klassische Rezension sein, bei welcher wie üblich am Ende ein Fazit steht und oben rechts im Eck, die Punktzahl anhand Sterne abgebildet ist. Denn „Boyhood“ ist wohl der subjektivste Film, der mir je untergekommen ist. Ich möchte niemandem vorschreiben, ob er diese Erfahrung nun so atemberaubend, zu tränenrührend empfinden soll wie ich oder doch nur als nettes 12-jähriges Experiment, welches inhaltlich enttäuscht.

Trotzdessen erhält der Film selbstverständlich die volle Punktzahl und ist für mich eindeutig Film des Jahres 2014. Es ist meiner Meinung nach einer der besten Filme die jemals gedreht wurden und hat sich sofort einen Platz in meiner Top10-Lieblingsfilme-Liste gesichert.

Beitragsbild: (c) UNIVERSAL

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