„Capernaum – Stadt der Hoffnung“ – Kritik des libanesischen Oscar-Kandidaten

Nadine Emmerich 8. Januar 2019 0
„Capernaum – Stadt der Hoffnung“ – Kritik des libanesischen Oscar-Kandidaten

Der etwa zwölf Jahre alte Zain verklagt seine Eltern, weil sie ihn auf die Welt gebracht haben, ohne sich um ihn kümmern zu können. In „Capernaum – Stadt der Hoffnung“ schildert die libanesische Regisseurin Nadine Labaki das Leben in Beiruts Slums.

Zain (Zain Al Rafeea) sitzt mit seinen gerade mal zwölf Jahren, auf die der Junge ohne Papiere geschätzt wird, zu fünf Jahren Haft verurteilt in einem Beiruter Gefängnis. Er hat den Mann niedergestochen, mit dem seine elfjährige Schwester Sahar (Cedra Izam) zwangsverheiratet wurde. Vor Gericht steht er in Nadine Labakis bewegendem Drama „Capernaum – Stadt der Hoffnung“ aber nicht wegen dieser Tat. Zain verklagt seine Eltern – und symbolisch eine ganze Gesellschaft -, weil sie ihn auf die Welt gebracht haben, obwohl sie sich nicht um ihn kümmern können. Und weil er will, dass sie keine weiteren Kinder bekommen dürfen.

In „Capernaum“, was so viel wie Chaos bedeutet, erzählt die libanesische Filmemacherin Labaki („Caramel“) in Rückblicken, wie es so weit kommen konnte. Dafür wurde sie beim Filmfestival in Cannes bereits mit dem Preis der Jury und dem Preis der Ökumenischen Jury geehrt. Bei der Oscar-Verleihung am 24. Februar geht „Capernaum“ als bester nicht-englischsprachiger Film ins Rennen. Zu Recht – denn Labakis Geschichte, die oftmals fast dokumentarisch anmutet, geht unter die Haut, ohne ins Rührselige abzudriften.

Wie Zain und sein unüberschaubarer Haufen kleiner Geschwister im Beiruter Elendsviertel auf engstem und versifftem Raum leben, das kleinste Kind angekettet, damit es die Eltern – illegale Immigranten – nicht beim Drogenkochen stört. Wie Zain für den Vermieter und Kleinhändler Assad knechten muss, statt zur Schule gehen zu dürfen. Als Sahar für ein paar Hühner an Assad verkauft wird, rastet Zain aus, packt einen Müllbeutel mit seinen wenigen Habseligkeiten und steigt in einen Bus.

Seine ziellose Fahrt bringt ihn auf ein Jahrmarktgelände, wo er die äthiopische Immigrantin Rahil (Yordanos Shiferaw) und deren Baby Yonas kennenlernt. Die liebevolle und fürsorgliche Frau, die so ganz anders ist als Zains eigene Eltern, nimmt den Jungen bei sich auf. Im Gegenzug kümmert Zain sich um Yonas, während Rahil arbeitet. Als diese eines Tages nicht mehr zurückkehrt, weil sie bei einer Razzia verhaftet wurde, ist Zain mit dem Baby plötzlich auf sich allein gestellt.

Authentizität durch Streetcastings

Und die Grenzen zwischen richtig und falsch, Gut und Böse verschwimmen langsam. Als Zain und Yonas in den Slums um ihr Überleben kämpfen, trifft auch der Zwölfjährige eine krasse Entscheidung. Labaki urteilt in „Capernaum“ indes nicht. Auch nicht über Zains Eltern. Sie spielt zwar selbst die Anwältin des Jungen vor Gericht, schlägt sich mit ihrem Film jedoch nicht explizit und ausschließlich auf seine Seite. Stattdessen lässt sie auch die Verzweiflung der Eltern über ihre aussichtslose Lebenssituation zu. So treffen vor dem Tribunal alle Perspektiven aufeinander.

Ungeachtet der pathetischen Anklage ist „Capernaum“ mit seinem thematischen Rundumschlag von sozialer Ungerechtigkeit über illegale Einwanderung bis zu Kindesmisshandlung ein sehr authentischer Film geworden. Dazu trägt auch die Wahl der Schauspielerinnen und Schauspieler bei, die alle über Streetcastings zu ihren Rollen kamen. „Es war entscheidend, dass die Darsteller die Bedingungen, die wir zeigen, kannten“, sagte Labaki in einem Interview. Der größte Glücksgriff war dabei der syrische Flüchtling Zain Al Rafeea, der den jungen Protagonisten schlicht umwerfend – und in seiner Reife manchmal fast schmerzlich – darstellt. Weite Teil des Films spielen sich quasi in Zains Gesicht ab.

Für „Capernaum“ recherchierte Labaki zudem drei Jahre lang heimlich in armen Gegenden, Besserungsanstalten und Jugendgefängnissen. „Ich habe gespürt, dass ich in die Realität dieser Menschen und ihrer Geschichten eintauchen musste, mich auf ihren Zorn, ihre Frustration einlassen, so dass ich es am besten im Film vermitteln konnte“, sagt sie. Dabei ging es der Regisseurin aber nicht um eine Kritik an der libanesischen beziehungsweise Beiruter Gesellschaft: „Was sich dort abspielt, spielt sich in jeder großen Stadt der Welt ab.“

Für Zain Al Rafeea siegte unterdessen die Hoffnung über das Chaos: Mit Hilfe des Flüchtlingswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) konnten seine Familie und er inzwischen nach Norwegen auswandern – und Zain darf endlich zur Schule gehen.

Filmstart: 17. Januar 2019

Foto: Alamode Film

 

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