Auch wenn das Logo von Ghibli, der legendären Anime-Schmiede aus Japan, zu Beginn von Die rote Schildkröte aufleuchtet, so ist dieser Animationsfilm doch keine alleine Produktion aus dem Studio, das uns mit Filmen wie Mein Nachbar Totoro oder Chihiros Reise ins Zauberland diverse Klassiker beschert hat. Diesmal entstanden in Fernost aber immerhin die Storyboards, der Rest kommt aus Frankreich und Holland.
Beide Einflüsse – Europa und Japan – merkt man dem oscarnominierten Werk deutlich an. Und das nicht nur tricktechnisch, sondern auch inhaltlich: Die rote Schildkröte fühlt sich einerseits nach europäischem Autorenfilm an, andererseits versprüht er aber auch den Zauber virtuoser Animationskunst. Und das, ohne sperrig zu sein. Denn dafür ist er einfach viel zu ergreifend.
Worum geht es? Ein namenloser, schiffbrüchiger Mann wird an den Strand einer einsamen Meeresinsel gespült. Ein kleiner Teich, ein paar Obstbäume, ganz viel Bambus und eine Gruppe Krebse – mehr gibt es auf diesem Eiland nicht. Außer natürlich: Einsamkeit. Der Versuch des Neuankömmlings, auf einem Floß zu entkommen, scheitert, als sein selbstgebauter Untersatz durch eine rote Schildkröte zerstört wird. Auch der zweite und dritte Anlauf schlagen fehl. Als das Panzertier an Land kriecht, kommt es zur unmittelbaren Konfrontation: In Rage dreht der Mann das wehrlose Tier auf den Rücken, sodass es bald stirbt. Das Mitleid des unfreiwilligen Eremits schlägt bald in Verwunderung um: Aus der Schale des Meerestieres entsteigt eine wunderschöne Frau.
An dieser Stelle wird aus einem Schiffbrüchigen-Drama zunächst eine Liebesgeschichte und schließlich ein Familiendrama. Dieser Genre-Transfer bringt angenehme Dynamik in eine Erzählung, der es an einer Sache fehlt: Sprache. Bis auf vereinzelte Rufe und Urlaute bleiben die Figuren nämlich stumm. Die rote Schildkröte kann das durch eine ausdrucksstarke Bildsprache aber vollkommen kompensieren.
Farben, Formen und Animationen – teils aus dem Zeichenstift, teils aus dem Computer – zeigen eine schöne Balance aus Realismus und Überzeichnung. Ein kunterbuntes Fest à la Disney und Chihiro ist das ist nicht, stattdessen fühlt man sich an eine Mischung aus Tim und Struppi und Die Legende der Prinzessin Kaguya erinnert. Jede Dynamik im Bild, jeder Lichtstrahl ist bewusst gesetzt. Jede einzelne, wohldosierte Geste drückt hier (tatsächlich) mehr als tausend Worte aus. Das angepriesene Credo des Filmemachens – „Show, don’t tell“ – findet in Die rote Schildkröte seine Erfüllung.
Zwischen Meerjungfrauen-Mythos, Sintflut oder dem Motiv von Adam und Eva im Paradies, also im Zentrum all dieser Symbole, steht die Verbundenheit von Mensch und Natur. Spätestens damit reiht sich Die rote Schildkröte in das Oeuvre von Ghibli ein. Nichtsdestotrotz ist die Erzählung dieses Öko-Märchens universell: Zu welcher Zeit, an welchem Ort und in welchem Kulturkreis sie spielt, ist weder erkennbar, noch relevant. Genau so universell ist die emotionale Palette, die Die rote Schildkröte anspricht und die den Zuschauer durch alle Höhen und Tiefen führt. Der Kloß sitzt am Ende der 80 Minuten jedenfalls ganz tief im Hals.
Fazit
Die besten Filme sind manchmal auch die einfachsten: In traumhaft schönen 80 Minuten präsentiert Die rote Schildkröte eine Geschichte, die berührt, ohne zu belehren, und fasziniert, ohne zu überfordern. Kein Animationskino für die ganz Kleinen, dafür umso besser für die Größeren. Spätestens jetzt sollten Animationsfilmverweigerer den Gang ins Kino wagen – ebenso wie alle anderen.
Die rote Schildkröte kriecht am 16. März in den deutschen Kinos an Land.
Bilder & Trailer: (c) Universum Film