Benicio del Toro ist vielen sicher noch mit seiner Darstellung von Che Guevara in den beiden aufregenden und kontrovers diskutierten „Che“-Filmen bekannt. Der umtriebige Schauspieler hat sich erneut an die Verkörperung einer bekannten Lateinamerikanischen Persönlichkeit gewagt: der des kolumbianischen Drogenbarons Pablo Escobar. Soviel sei zu Anfang schon mal verraten: del Toro spielt Escobar hervorragend. Aber kann das einen ganzen Film tragen? Der Kanadier Nick (Josh Hutcherson) ist mit seinem Bruder Dylan (Bradey Corbet) an die Nordküste von Kolumbien gezogen, um dem invaliden Bruder den Traum einer eigenen Surfschule zu erfüllen. Dort verliebt er sich in die schöne Maria (Claudia Traisac), eine Nichte des Paten Pablo Escobar (Benicio del Toro). Da die Sache zwischen den beiden ernst ist, wird Nick in die große Familie der Escobars eingeführt. Schnell wird ihm klar, dass hinter der Fassade einer schönen, freundlichen Familie der Tod wartet. Er möchte mit Bruder und Maria das Land verlassen, doch zuvor muss er noch einen Auftrag für Escobar ausführen, der ihn an seine Grenzen treiben wird.
Zunächst muss festgehalten werden, dass die Geschichte des Films fiktiv ist und nicht als die künstlerische Nacherzählung realer Ereignisse verstanden werden darf.Trotzdem hat „Escobar – Paradise Lost“ durchaus den Anspruch, einen Eindruck davon zu vermitteln, wie es im Escobar-Universum zugegangen sein könnte.Der Wandel der Sicht Nicks auf Escobar nimmt den halben Film ein: Zunächst fragt sich der naive Surfer nicht, woher der Reichtum der Familie kommt, und als er es erfährt, macht er sich keine Gedanken darüber. Nachdem aber eine Gruppe Dorfbewohner, die ihn und seinen Bruder bedroht hatten, kopfüber und verbrannt von einem Baum hängen, beginnt Nick zu verstehen, auf welcher Brutalität Escobars Macht fusst. Es ist schade, dass im Film versucht wird, das Geheimnis Escobar aus der Sicht eines Nordamerikaners, der kaum Spanisch spricht, zu entschlüsseln. Dieser Umstand ist wohl dem Kalkül der Produzenten geschuldet, die einen finanziellen Erfolg des Films von der Besetzung der Hauptrolle mit einem jungen amerikanischen Star, dem aus der „Hunger Games“-Reihe bekannten Hutcherson, abhängig machten. Dadurch wirkt die ganze Story eher künstlich und herbeigedichtet und verabschiedet sich auf dieser Ebene von jeglichem Wahrheitsanspruch. Dies ist nicht Hutcherson geschuldet, der eine ordentliche, aber unaufällige schauspielerische Leistung abliefert.
Außerdem ist der Film zur Hälfte auf Englisch, zur anderen Hälfte aber auf kolumbianischem Spanisch gedreht, was wiederum ein gewisses Zeichen von Realismus bedeutet. Die Darstellung des ländlichen Lateinamerika, vor allem im zweiten Abschnitt, als Nick seinen Auftrag ausführen muss, ist wirklich gelungen. Durch kaum bearbeitete Landschaftsaufnahmen und Standbilder beispielsweise von Geiern auf einem Kirchendach fühlt man sich direkt in ein kleines, beispielhaftes Dorf in Kolumbien versetzt. Regisseur Andrea di Stefano nimmt sich hier Zeit, zeigt auch für die Handlung unwichtige Szenen geduldig und trägt damit dazu bei, dass dieser Abschnitt, der zweifellos beste mit Nick, einen geradezu dokumentarischen Anspruch bekommt. Der Latino-Junge, der Nick bei seinem Auftrag hilft, ist eine wirkliche schauspielerische Entdeckung.
Escobar selbst wird von del Toro wunderbar doppelzüngig und moralisch zweideutig gespielt. So liest er seiner Tochter aus dem Dschungelbuch vor und lässt sie ans Telefon gehen, auf dem er wenige Augenblicke später dem Anrufer sein baldiges Ableben verkündigt. Als waschechter Familienmensch verwandelt sich Escobar in Anwesenheit von Frau und Kindern in einen liebenswerten Vater und lässt seine Lieben darüber im Dunkeln, dass er kurz danach Morde an Feinden und Getreuen in Auftrag gibt. Im Film wird sich Escobar, als Volksheld und Robin Hood gefeiert, der Polizei übergeben. Seine Reichtümer möchte er verstecken, ohne Mitwisser zu hinterlassen. So offenbart sich gegen Ende des Films, dass Escobar loyal wirklich nur seiner direkten Familie (also Frau und Kindern) ist, darüber hinaus jeder aber alsbald zu Freiwild werden kann. Geschickt streift di Stefano so nur die Atmosphäre des allgegenwärtigen Todes und Misstrauens, die in Escobars Truppe geherrscht haben muss.
Erfrischend anders, als Hollywood erwarten lässt, ist das ungewöhnlich unkonventionelle Ende. Als Folge zeigt sich, dass „Escobar – Paradise Lost“ ein kleines, rundes Realismus-Stück ist, dass nur Abstriche bei der Konzeption der Geschichte hinnehmen muss, trotzdem aber eine eigene, sehenswerte Dynamik entwickelt.
Kinostart in Deutschland ist der 9. Juli 2015