Seit Jahren setzt sich Ai Weiwei für Menschenrechte ein. Einen weiteren Beitrag leistet der Konzeptkünstler jetzt mit seiner Dokumentation «Human Flow», die das erschütternde Ausmaß der gegenwärtigen Völkerwanderung beleuchtet. Dafür sammelte er und sein Team bewegende Geschichten aus 23 Ländern.
Den meisten ist der chinesische Regimekritiker Ai Weiwei nicht als Regisseur, sondern als Konzeptkünstler bekannt, der in seinen Installationen insbesondere Menschenrechtsverletzungen, wirtschaftliche Ausbeutung und Umweltverschmutzung in seinem Land anprangert. Dass er zwischen 2003 und 2005 zwei Langfilme schuf, dürften nur die eingefleischten Fans wissen. In «Beijing: The Second Ring» und «Beijing: The Third Ring» fährt Ai mit der Kamera die Straßen des Chang’an-Boulevards sowie des zweiten und dritten Rings in Peking ab, um „die Ohnmacht der Menschen und die blinde Natur städtebaulicher Sanierung zu zeigen“, wie er damals sagte. Diese Art des Filmens bezeichnete der Künstler als „un-emotionalen Weg“. Umso emotionaler fällt seine jüngste Dokumentation «Human Flow» aus, in der er sich mit der weltweiten Flüchtlingskrise auseinandersetzt.
Seine Premiere feierte der Film bei den 74. Filmfestspielen in Venedig, wo Ai erläuterte, wie das Projekt begonnen hatte. Er sei schlichtweg hineingestolpert: „Ich war im Urlaub auf Lesbos mit meinem Sohn. Wir sahen, wie ein Flüchtlingsboot strandete, und ich fing an, das mit meinem Smartphone zu filmen.“ Die Arbeiten erstreckten sich daraufhin über ein Jahr, in dem insgesamt 25 Teams den Weg in 23 Länder antraten, um die gegenwärtige Migrationsbewegung zu dokumentieren. Entstanden ist ein 140-minütiges Gesamtbild, das im Gegensatz zu Gianfranco Rosis «Seefeuer» einem Mosaik aus Einzelschicksalen gleicht. Rund 65 Millionen Menschen sollen derzeit auf der Flucht sein, so viele wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr. Welche Ursachen und folgen das hat, wird an Schauplätzen wie Irak, Syrien, Bangladesch, Palästina oder Frankreich, Griechenland, Italien und Deutschland mehr als offensichtlich: Krieg, Hunger und Diskriminierung zwingen sie dazu, nach einer neuen Heimat zu suchen. Leid, Ausbeutung und Entwurzelung ist es, was sie am Ende finden.
Die Dokumentation beeindruckt nicht nur mit hervorragend fotografierten Bildern, sie zeichnet sich auch durch ihren Ton aus. Ai klagt weder an, noch präsentiert er vollmundige Lösungsvorschläge. Warum es ihm geht, ist Mitgefühl und Toleranz. Der Film appelliert an den Sinn für Menschlichkeit, indem er immer wieder erschreckende Fakten vorlegt oder Verse arabischer Lyriker einblendet. Herzergreifend wirken insbesondere Szenen, in denen Flüchtlinge entweder in riesigen Schlangen für eine Suppe anstehen oder in den Camps unter katastrophalen hygienischen Bedingungen bei Regen und Kälte hausen. Sie verlieren nicht nur wertvolle Jahre ohne Bildung und Arbeit, sondern sind auch Stigmatisierungen ausgesetzt. Auch das macht Ai überdeutlich, wenn er die Betroffenen über ihre Erfahrungen sprechen lässt. Dabei vergisst er auch diejenigen nicht, die in der medialen Berichterstattung kaum Erwähnung finden. Dazu gehört zum Beispiel die muslimische Minderheit der Rohingya, die in Myanmar verfolgt werden. Allein in den letzten Wochen sind mehr als 400.000 Menschen dieser Ethnie nach Bangladesch geflohen. Ihnen gibt «Human Flow» eine Plattform, um die Weltöffentlichkeit auf ihr Leid aufmerksam zu machen. Dafür verdient Ai Respekt.
Sein Film kommt nahezu zeitgleich mit dem EuGH-Urteil, das alle Mitgliedstaaten dazu verpflichtet, Flüchtlinge aufzunehmen. Ungarn will sich dennoch nicht daran halten. Gegen diese Abstumpfung kämpft Ais Dokumentation an und ruft in Erinnerung, dass nationale wie übernationale Freizügigkeit ein Menschenrecht ist. Der moralische Appell zeigt Wirkung. Denn tatsächlich stellt sich beim Zuschauen so etwas wie Katharsis ein. Man leidet mit den Flüchtlingen und spürt zugleich, wie die Furcht aufsteigt, das gleiche Schicksal könnte einen selber ereilen. Doch die seelische Reinigung dauert nicht lange, weil der Film nicht dramatisch, sondern episch angelegt ist. Ihm fehlt die Spannung. Die bloße Aneinanderreihung von Leid und Elend wirkt nach 90 Minuten sehr redundant, sodass der läuternde Effekt wieder verpufft. Das ist auch dem zunehmend schneller werdenden Wechsel der Schauplätze geschuldet, der bisweilen an Nachrichtenbeiträge im Fernsehen erinnert, von denen sich die Dokumentation eigentlich abgrenzen will.
Daher kann «Human Flow» in der formalen Gestaltung nicht mit seinem Vorgänger «Seefeuer» konkurrieren. Gianfranco Rosis Dokumentation zeigt zwar nicht die ganz großen Katastrophen, kontrastiert aber auf Lampedusa das Schicksal der Schiffsflüchtlinge mit dem Alltag der Insulaner. Während diese ein ödes Dasein fristen, sterben vor der Küste beinahe täglich Menschen, die einen waghalsigen Weg auf sich genommen haben, um in Europa ein besseres Leben zu finden. Doch diese beiden Welten berühren sich auf der kleinen Insel so gut wie gar nicht. Genauso wie die Einheimischen nimmt auch Europa die Hilfesuchenden nicht wahr. Auf diese Blindheit spielt «Seefeuer» mit der Diagnose eines Arztes an, der dem Protagonisten Samuele ein träges Auge bescheinigt. Von solchen Metaphern gibt es mehrere, in «Human Flow» sucht man sie vergebens. Ai Weiwei verzichtet auf Allegorien und spielt auch nicht mit Kontrasten. Er führt weder Handlungsträger ein noch entwickelt er kunstvolle -bögen. Aber er sieht auch nicht weg. Und das ist schon sehr viel.
Kinostart von „Human Flow“ ist der 16. November 2017.
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