„Ich seh Ich seh“ Kritik: Die Mutter aller Ängste

Jan Lamann 25. Juli 2015 2
„Ich seh Ich seh“ Kritik: Die Mutter aller Ängste

Wer erinnert sich nicht an jene Momente der Kindheit, in denen man nach Hause kam, und sich beim Anblick der Eltern sofort ein Gefühl der Geborgenheit und Sicherheit einstellte? Was aber, wenn dieses Gefühl ausbleibt und die eigene Mutter plötzlich völlig fremd und verändert scheint? Dieses bedrückende Szenario präsentieren uns die beiden österreichischen Regisseure Veronika Franz und Severin Fiala im Film „Ich seh Ich seh“ (Goodnight Mommy).

Am Anfang war das Dunkel

Die beiden Zwillinge Lukas und Elias spielen im Freien. Sie rennen durch Maisfelder, toben über Wiesen und erkunden den nahegelegenen Wald. Vor einem großen Kanaleingang bleiben sie stehen und schauen ins Dunkel, das sich direkt vor ihnen auftut. Nach kurzem Zögern geht erst der eine, dann der andere wie von einer unsichtbaren Macht gezogen in die Dunkelheit, bis beide Kinder völlig darin verschwinden.

Diese kurze Szene gleich am Anfang des Filmes scheint wie ein Vorbote dessen, was dann folgt, denn als die Mutter der beiden nach offensichtlich längerer Abwesenheit zuhause eintrifft, ist nichts mehr eitel Sonnenschein.  Es gibt kein liebes Wort zur Begrüßung, die Mutter trägt einen Verband um den Kopf, und wirkt merkwürdig kalt und fremd. Es werden neue, strenge Regeln aufgestellt, offensichtlich scheint etwas im Argen zu liegen. Kurze Momente mütterlicher Zuneigung werden gleich wieder durch die Gefühlskälte der Mutter zerschlagen, und es scheint, die Kinder werden nur geduldet, oft nicht einmal mehr beachtet, schließlich werden sie sogar geschlagen.

Wer ist diese strenge, fremde Frau? Dieser Frage wollen auch Lukas und Elias auf den Grund gehen. Sie lauern der Mutter wie zwei Nachwuchsspione auf, beobachten sie heimlich und beginnen, ihr auf den Zahn zu fühlen. Wir erfahren bruchstückhaft von einer Operation und einem Todesfall. Doch die Erklärungen der Mutter bleiben durchzogen von Unstimmigkeiten. Was folgt, ist eine erbarmungslose Suche nach der Wahrheit, während der die beiden Jungs sehr schnell schonungslose Methoden entwickeln, um dem falschen Spiel der fremden Mutter ein Ende zu bereiten. Und bald stellt sich dem Zuschauer die Frage, ob „das Böse“ und „das Gute“ so einfach voneinander zu unterscheiden sind.

Heimisches Gefängnis

Überhaupt hat man es als Zuschauer in „Ich seh Ich seh“ nicht leicht. Die Regisseure verstehen es, immer wieder neue Rätsel und Barrieren zu schaffen, und verwischen die Grenzen zwischen Illusion und Wirklichkeit. Bild und Ton werden eindringlich und unerbittlich eingesetzt, um uns den gnadenlosen Kampf der Kinder um die wahre Identität der Mutter nahe zu bringen.

Auch das Haus der Familie formt die immer bedrohlicher werdende Stimmung deutlich mit. Eintönig gestaltete Wände und Möbelstücke, metallene Armaturen mit riesigen Schläuchen und Hängesessel, die aussehen wie Folterstühle, strahlen keinerlei Geborgenheit aus und erinnern eher an ein Sanatorium. Gebrochen wird die Kälte und Monotonie im Haus lediglich durch unscharfe Portraits an den Wänden und einige befremdliche Skulpturen, die anstelle von Ästhetik viel mehr einen gewissen Wahnsinn zu versprühen scheinen. Die zahlreichen Schiebetüren im Haus wirken wie Guillotinen, die die äußere Welt vom heimischen Gefängnis trennen, um niemanden herein oder heraus zu lassen. Mit einem lauten, kratzenden Geräusch öffnen sich die Jalousien, der Klang erinnert an den einer rostigen Säge. Das durch die Jalousien hereinbrechende Licht scheint den Raum, den es erhellt, regelrecht in zwei Teile zu zersägen. Je weiter die Handlung voranschreitet, desto mehr verwandelt sich das Haus in ein Gefängnis, und banale Gegenstände werden als grausame Folterinstrumente zweckentfremdet. Nein, dieses Heim ist kein schöner Ort mehr.

Selbst die Natur vor der Tür wirkt bedrohlich und feindselig. Brennende Kornfelder, Gewitter mit Hagelschauer und ein düsterer Wald, der Schauplatz fieberhafter Träume ist, sind Teil der zerstörerisch gezeichneten Landschaft. Dazu gesellen sich wirkungsvoll ein alter Friedhof, gestapelte Totenschädel in einer Gruft und verlassene Dorfstraßen, dazwischen sterbende Katzen und ertrinkende Kakerlaken. Wo auch immer dieser Film spielt, hier möchte man keinen Urlaub machen. Alles ist feindselig, nichts und niemandem kann man mehr trauen, nicht einmal dem Pfarrer im Dorf.

Vergangen sind die unbeschwerten Tage, alles, was jetzt bleibt ist eine knackende Tonbandaufnahme der Mutter aus der Zeit, als sie sich noch mit Fürsorge um ihre beiden Kinder gekümmert hat. Vergangen auch die Zeit der Unschuld von Lukas und Elias, die beunruhigend schnell lernen, sich gegen die Mutter zur Wehr zu setzen und mit immer perfideren Methoden versuchen, sie zum Sprechen zu bringen.

Bei aller Grausamkeit des Gezeigten gelingt es den Filmemachern gelegentlich, eine gewisse Ironie und Komik in den Film einzubauen. Aufdringliche Rotkreuz-Spendensammler oder ein betrunkener Akkordeonspieler bieten ein tragisch-komisches Gegenstück zur restlichen, unerbittlichen Entwicklung. Doch auch wenn diese Szenen für kurzfristige Erheiterung sorgen mögen, so findet man sich doch schnell wieder in der brutalen Wirklichkeit des Films, einer wahrhaft schaurigen Geschichte, in der Leid und Qual unbarmherzig und gleichzeitig trivial gezeigt werden, und die im Grand Finale auch die letzten Grenzen überschreitet.

Fazit

„Ich seh Ich seh“ ist sicherlich kein Film für Menschen mit schwachen Nerven; erbarmungslos lassen die Regisseure die Hauptdarsteller aufeinandertreffen. Parallelen zur Folterszene in Takashi Miikes „Audition“ sind zu erkennen, und der Vergleich zu Michael Hanekes „Funny Games“ liegt nahezu auf der Hand – auch hier kommt die Angst nach Hause und bleibt… und bleibt. Allerdings entwickelt sich die Handlung in „Ich seh Ich seh“ nicht so explosionsartig und nimmt sich für einzelne Darstellungen und Eindrücke mehr Zeit, was positiv zur Atmosphäre des Filmes beiträgt. Die konkrete Handlung des Films wird außerdem wiederholt durchbrochen von surrealen Elementen, die immer wieder auch an die Werke David Lynchs erinnern. Eine wirklich vollständige Aufklärung der Geschehnisse hingegen bleibt dem Zuschauer verwehrt.

Es wird sich garantiert nicht jeder Zuschauer kritiklos mit dem Ende anfreunden können, und über manche Einzelheiten mag man sich durchaus streiten. Trotz allem setzten die Regisseure die Thematik von Identität und deren Wahrnehmung gekonnt um, und schaffen mit diesem Film ein sehenswertes, einprägsames und zugleich schockierendes Werk, das das Potential zum „Film des Jahres“ hat. Großartig!

„Ich seh Ich seh“ läuft seit dem 2. Juli 2015 in den deutschen Kinos!

„Ich seh Ich seh“ Kritik: Die Mutter aller Ängste

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