Wenn das Leben zu langweilig ist, der Alltag einem ermüdendem Wechsel zwischen Arbeit und Wohnzimmer gleicht und der Körper bereits Abwehrkräfte gegen die Adrenalienschübe made by Hollywood aufgebaut hat, bleibt als einzige Alternative nur noch das Ergötzen am Leid der Anderen übrig. So sitzen die Zuschauer beim Frühstück, Mittag- und Abendessen beschützt auf ihrem Sofa oder am Esstisch, schlurfen ihre Nudeln und schauen gespannt der entfremdeten Wirklichkeit von Unfall und Totschlag zu. Denn in unserer heutigen Welt lockt man seine Zielgruppe mit kleinen Katastrophen nicht mehr vor die Glotze, sondern muss sich regelmäßig selbst – und die Konkurrenz – überbieten, im ewigen Kampf um Zuschauerzahlen.
Picture our newscast as a screaming woman running down the street with her throat cut
Dieses Thema greift Dan Gilroy in seinem Regie-Debüt „Nightcrawler“ (2014) auf. Eine Medien-Satire, eine persönliche Erfolgsstory der anderen Art.
Jake Gyllenhaal verkörpert mit Louis Bloom eine seiner besten Rollen; eine Persönlichkeit zwischen Driver (Drive) und Travis Bickle (Taxi Driver). Ein einsamer Wolf, zurückgezogen in seiner kleinen Wohnung lebend, sich als Gelegenheitsarbeiter und Dieb von Baumaterialien durchs Leben schlagend. Auf der Suche nach Geld findet sich der soziopathische Antiheld an einem Unfall wieder: brennendes Auto, blutige Opfer, Polizei und kurz darauf direkt am Geschehen zwei Personen mit Kameras, die den Horror in Geld verwandeln möchten. Später erzählt Lou von einem Business-Kurs, welcher besagte, man solle vor der Entwicklung einer Idee, Interessen und Fertigkeiten ausloten: Aus dem Erlös von Diebesgut ergattert er sich nötiges Equipment und wird ein Nightcrawler.
„Nightcrawler“ lebt vor allem von seinem Protagonisten. Lou, der arrogante, ehrgeizige Autodidakt, der der unberechenbaren Sensationsgeilheit der Medien und ihrer Kundschaft, der Gesellschaft, mehr und mehr verfällt und in diesem Milieu seine Bestimmung gefunden hat.
Ein Abgrund, dargestellt in der nachfolgenden Umdichtung der Ballade „Erlkönig“ von Johann Wolfgang von Goethe:
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Wer fährt so spät durch Nacht, auf Asphalt?
Es ist der Nightcrawler auf der Suche nach Gewalt;
Er hat die Kamera wohl im Arm,
Er fasst sie ruhig, er ist nah dran.
Mein Engel, was birgst du so bang dein Gesicht?
Siehst Mensch, du deinen Teufel nicht?
Deinen Wahn nach Mord und Gewalt?
Mein Engel, die Welt, so kalt.
„Du lieber Mensch, komm, bleib bei mir!
Gar schöne Dinge zeig ich dir;
Manch‘ düstre Gestalten ziehn durch die Straßen,
Auf dem Weg die Welt zu strafen.
O Mensch, mein Herr, und hörst du nicht,
Was dein Teufel dir leis verspricht?
Sei ruhig, bleib ruhig, mein Kind;
Durch die Gassen säuselt der Wind.
„Willst, feiner Herr, du Qualen sehen?
Meine Herrscharen sollen dich leiten schön
Meine Herrscharen führen das nächtliche Fest
Stehlen, hacken, treten ganz fest.“
Mein Freund, mein Freund, und siehst du nicht dort
Des Teufels Heer am düsteren Ort?
Mein Engel, mein Engel, ich seh‘ es genau:
Es ist ein Spiel der Lichter – der Stau.
„Ich liebe dich, du bist nicht scheu;
Du bist so willig, du bist mir so treu.“
Mein Mensch, mein Mensch, jetzt umgarnt er dich voll!
Ich verlier dich, o so grauenvoll.
Der Mensch vergeht, nun Teufels Material,
Unter den Rädern die tote Moral.
Der Nightcrawler hats zum Tatort geschafft;
Die Augen, der Spiegel der Gesellschaft.
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Dan Gilroy bietet dem Zuschauer mit seinem Erstlingswerk einen Film, der uns zum Nachdenken bringt. Der uns – überzeichnet – einen Blick hinter den Vorhang der Medienwelt bietet und ein Thema präsentiert, welches bisher kaum angeschnitten wurde. Informierend, unterhaltsam und abschreckend ist „Nightcrawler“, der uns – der Gesellschaft – nicht nur einmal den Spiegel vorhält uns innehalten lässt, zur Selbstreflexion unseres Medienkonsums.
Audiovisuelle Nähe an „Drive“ von Nicolas Winding Refn: packender, antreibender Soundtrack, atmosphärisch dichtes Nachtleben von Los Angeles, wenige, aber mitreißende Action-Szenen, ruhige, tiefgreifende Gespräche.
Im Großen und Ganzen überzeugt „Nightcrawler“ auf ganzer Linie. Cineastisch ein Augenschmauß und Musik für die Ohren, schauspielerisch eine mehr als füllende Hauptspeise (Gyllenhaal) mit nicht weniger überzeugenden Nebengerichten (Rene Russo, Riz Ahmed, Bill Paxton) und einer Spiellänge, die weder zu kurz noch zu lange ist.
Die DVD und BD erschien am 26.03.2015!
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