„The Book of Henry“ Kritik: emotionsgeladenes Familiendrama mit viel Witz

Eugen Zentner 15. September 2017 0
„The Book of Henry“ Kritik: emotionsgeladenes Familiendrama mit viel Witz

Wie weit würde ein Elternteil für sein Kind gehen? Dieser Frage geht der Film «The Book of Henry» nach, in dem der hochbegabte Titelheld alles zu wissen scheint. Dieser tritt als moralische Autorität selbst dann auf, als er nicht mehr am Leben ist.

Der Film «The Book of Henry» beginnt damit, dass der Titelheld (Jaeden Lieberher) vor seinen Klassenkameraden über «Vermächtnis» sprechen soll. Doch der 11-Jährige will nicht viel über dieses große Wort sagen und tut es lapidar als „Ablenkung von einer Sinnkrise“ ab, um dies anschließend dann doch mit philosophischen Ausführen zu begründen. Nach dieser kurzen Demonstration seines Könnens ist allen sofort klar: Es handelt sich hier um keinen normalen Jungen. Einen weiteren Beweis dafür liefert Henry, als ihn die Lehrerin nach der Stunde fragt, warum er sich gegen eine Hochbegabtenschule entschieden hat. Für seine psychosoziale Entwicklung sei es besser, mit Gleichaltrigen in einem gewöhnlichen Umfeld zu interagieren, sagt er und verlässt das Klassenzimmer, um wie immer Ordnung in den Alltag seiner kleinen Familie zu bringen.

Zu Henrys täglichen Aufgaben gehört es, seinen kleinen Bruder Peter (Jacob Tremblay) zu beschützen und seine alleinerziehende Mutter Susan (Naomi Watts) zu unterstützen. Teilweise nimmt diese Fürsorge skurrile Züge an, wenn der 11-Jährige sich etwa um Finanz- und Rentenangelegenheiten kümmert oder Anlageoptionen abwägt. Henrys Wissen und Können scheint unerschöpflich zu sein. Er verdutzt den Arzt mit medizinischem Know-how, entwirft wie Leonardo Da Vinci technische Konstruktionen, gibt seinem Bruder Lebenstipps oder berät seine Mutter, ob ihr Chef das Gehalt direkt auf das Konto überweisen oder einen Scheck aushändigen soll.

Aus diesem Alltag wird Henry herausgerissen, als er aus seinem Fenster in das Zimmer der gleichaltrigen Nachbarin Christina (Maddie Ziegler) schaut und Zeuge wird, wie sich deren Stiefvater an ihr vergreift. Sofort beginnt der hochbegabte Junge, Alarm zu schlagen. Weil Henry aber bei den Behörden auf Granit stößt, nimmt er die Strafverfolgung selber in die Hand und begibt sich in den Columbo-Modus. Er macht Aufzeichnungen, spricht in das Diktaphon, observiert, plant und macht sich Gedanken, wie er den Bösewicht zur Strecke bringen kann. Der Thriller beginnt. Das denken jedenfalls die Zuschauer. Doch es kommt ganz anders, weil sie zunächst verkraften müssen, dass der Protagonist am Ende der ersten Filmhälfte an den Folgen eines Gehirntumors stirbt. Ob Drehbuchautor Gregg Hurwitz sich hier von «Game of Thrones» inspirieren ließ, ist schwer zu sagen, schließlich entstand die erste Skript-Version vor bereits neunzehn Jahren. Danach lebte die Geschichte lange Zeit in ihm fort, wie er sagt. Mit mehreren Überarbeitungen reifte auch das Drehbuch, was unter anderem daran liegt, dass Hurwitz selber Kinder bekam und seine Erfahrungen als Elternteil einbringen konnte.

Am Ende entstand ein Skript, das Regisseur Colin Trevorrow (Jurassic World) sofort begeisterte. Tatsächlich ist dem Drehbuch der lange Reifeprozess anzumerken. Es besticht durch überraschende Wendungen, emotionale Tiefe der Konflikte und viel Witz. Wenn Henry mit Fachvokabular seinen Gesprächspartnern schlagfertig den Wind aus den Segeln nimmt oder sein Klassenkamerad bei einem Schulwettbewerb nach einer Rap-Einlage cool das Mikrophon fallen lässt, muss selbst der mürrischste Kinobesucher lachen. Bisweilen wirkt die Geschichte sogar zu geschliffen, sodass die Geschäftserfahrung der Macher deutlich hervortritt. Sie wissen genau, welche Effekte sich beim Publikum einstellen, wenn die Story alle Zutaten enthält, die sich in Hollywood bewährt haben. Deswegen fehlt es weder an großen Gefühlen noch an einem Happyend noch an der Hoffnung, dass Henrys Mutter Susan nach dem überstandenen Abenteuer möglicherweise mit dem Arzt ihres Sohnes zusammenkommt. Der Film erzeugt bei den Zuschauern höchste Spannung, schickt sie auf eine turbulente emotionale Reise und entlässt sie wieder mit einem Wohlgefühl aus dem Kino. Das macht ihn bei all den positiven Aspekten ein wenig konfektioniert.

Lob gebührt dem Drehbuchautor jedoch dafür, dass er einen exzellenten Trick gefunden hat, mit dem sich Henry in der zweiten Filmhälfte am Leben halten ließ. Der gewiefte 11-Jährige denkt wie gewohnt an alles und sorgt vor seinem Tod vor, indem er sein ganzes Wissen über den Missbrauchsfall im Nachbarhaus in einem Buch dokumentiert. Zusätzlich dazu nimmt er eine Audio-Kassette auf, die als eine Anleitung dafür dienen soll, wie seine Mutter vorgehen muss, um Christinas Stiefvater zu töten. Nachdem Susan diese Aufzeichnungen gefunden hat, folgt sie Henrys Stimme Schritt für Schritt, bis die Handlung ihr spannungsreiches Finale erreicht.

Es gehört zu den beliebtesten Motiven US-amerikanischer Familiendramen, dass Kinder nicht als schutzbedürftige Objekte emotionaler Zuwendung auftreten, sondern als moralische Instanz. Henry ist ein weiterer Repräsentant dieser jungen Autoritäten, die man beispielsweise aus den «Simpsons» oder «Sopranos» kennt. Dabei geht es weniger um die Altklugheit des 11-Jährigen als um die Unklugheit Susans, die sich vor ihrem Sohn rechtfertigen muss, wenn sie zum Beispiel martialische Video-Games spielt oder bei einem handgreiflichen Streit eines Paares im Supermarkt nicht eingreift. Henry belehrt sie ständig und appelliert an ihre Wertvorstellung, indem er bedeutungsvoll von Zivilcourage spricht. Andererseits drängt er sie zum Mord, was seine moralische Autorität fragwürdig erscheinen lässt. Das erkennt schließlich auch Susan, die im entscheidenden Moment begreift, dass ihr Sohn, so klug er auch sein mag, noch ein Kind ist. Sie muss ihren Weg selber finden und eigenständig handeln. Aus dieser Krise geht Susan als selbständige Frau hervor, die im Alltag nicht mehr auf die Hilfe ihres hochbegabten Sohnes angewiesen ist. Aber Henry wäre nicht Henry, hätte er auch diesen Effekt nicht geplant. Und so steht er am Ende doch als moralische Autorität da und macht «The Book of Henry» zu dem, was es ist: ein typisch US-amerikanisches Familiendrama.

Kinostart 21. September 2017

 

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