„Simpel“ Kritik: eine rührende Geschichte von zwei ungleichen Brüdern

Eugen Zentner 3. Oktober 2017 0
„Simpel“ Kritik: eine rührende Geschichte von zwei ungleichen Brüdern

Ein Roadtrip muss nicht immer geplant sein. In «Simpel» resultiert er aus einer Situation, in der zwei ungleiche Brüder voneinander getrennt werden. Dass aber genau das besser für beide ist, erkennt einer von ihnen erst am Ende der Reise.

Feel-Good-Movies haben den Anspruch, die Zuschauer sowohl zum Lachen als auch zum Weinen zu bringen. Sie wollen unterhalten, ohne albern zu sein; süße Melancholie versprühen, ohne kitschig zu wirken. Vor allem aber wollen sie die Zuschauer emotional berühren, am liebsten allumfassend. Filmen wie «Vier Hochzeiten und ein Todesfall», «Garden State» oder «Forrest Gump» ist das gelungen. Die gleichen Ambitionen verfolgt die Letterbox-Produktion «Simpel», eine rührende Geschichte zweier Brüder, der zweifellos weder tragische noch komödiantische Elemente fehlen.

Sie spielt irgendwo in Ostfriesland nahe des Wattenmeers. Ben (Frederick Lau), der ältere der beiden, schlägt sich mit Gelegenheitsjobs durch, um seine kranke Mutter finanziell zu unterstützen und ihr die nötige Medizin zu besorgen. Auf seine Betreuung ist auch der jüngere Bruder Barnabas (David Kross) angewiesen. Trotz seiner 22 Jahre befindet er sich geistig auf dem Entwicklungsniveau eines Kindes und wird daher „Simpel“ genannt. Die Ursache dafür liegt in einer Behinderung, die den jungen Mann zwar einschränkt, ihm aber nicht die gute Laune nehmen kann. Zusammen mit seinem Stofftier Monsieur Hasehase entdeckt er draußen im Watt neue Kontinente und tanzt freudig mit Ben, wenn er findig wird.

Als die Mutter der beiden stirbt, soll Simpel in ein Heim eingewiesen werden. Ben ist über diesen Beschluss aufgebracht, zumal er zuvor einen Antrag darauf gestellt hat, seinen geistig behinderten Bruder selber zu betreuen. Doch dieser ist am Einspruch des Vaters gescheitert, der aus ihrem Leben vor 15 Jahren verschwand. Deswegen stehen schon bald ein Dorfpolizist und der Heimleiter vor der Tür, um Simpel abzuholen. Der Abschied ist schwer, so sehr, dass die beiden Brüder die Nerven verlieren. Während Simpel im Wagen ausrastet, rennt Ben dem Polizeibus hinterher und bemächtigt sich des Fahrzeugs, indem er sowohl den Polizisten als auch den Heimleiter rabiat hinauswirft. Ohne es geplant zu haben, befinden sich die beiden Brüder unversehens auf der Flucht. Und ihr Weg führt in die große Hansestadt, wo Ben ihren Vater zu finden hofft.

Im Laufe dieses Roadtrips macht das ungleiche Paar Bekanntschaft mit allerlei Menschentypen und gerät in komische Situationen, die Simpel dadurch bewirkt, dass er mit seinem Verhalten für absurde Momente sorgt. Als glückliche Fügung erweist sich die Begegnung mit Aria (Emilia Schüle) und Enzo (Axel Stein). Die Medizinstudentin und der Sanitäter nehmen die beiden Brüder mit nach Hamburg, nachdem Ben das Polizeifahrzeug hat aufgeben müssen. Später lässt Aria sie sogar in ihrer Wohnung übernachten, wo Simpel bei einem Kochversuch beinahe die ganze Küche abfackelt. Doch das ist nur eines der Abenteuer, die die Geflüchteten in der Großstadt zu bestehen haben.

Mit «Simpel» adaptierte Regisseur Markus Goller zusammen mit seinem Ko-Autor Dirk Ahner den gleichnamigen Roman der französischen Schriftstellerin Marie-Aude Murails aus dem Jahr 2004. Während im Buch Simpel im Mittelpunkt steht, haben sich die Macher dafür entschieden, im Film zwar ein ungleiches, aber ein gleichwertiges Paar zu zeigen. Teilweise erinnert die Grundkonstellation an «Rain Man», nur dass Ben nicht so aalglatt und selbstverliebt wie der von Tom Cruise gespielte Charlie Babbitt auftritt. Die Beziehung zwischen ihm und Simpel ist von Anfang an friedvoll. Nur ein Mal verliert er die Beherrschung, ansonsten ist seine Fürsorge geradezu überwältigend. Von dieser Harmonie lebt der Film, in dem das Zusammenspiel der beiden Hauptdarsteller die recht schwache Plot-Struktur ausgleicht.

David Kross («Der Vorleser») überzeugt mit seinem Feingefühl für die Stärken und Schwächen eines geistig behinderten Menschen. Und dennoch treten in Simpels Verhalten individuelle Charakterzüge hervor, durch die er an Glaubwürdigkeit gewinnt. Kross‘ Gestik, Mimik und Aussprache wirken sehr authentisch, auch weil der Schauspieler der Verführung widersteht, auf Klischees zurückzugreifen. Sein Simpel strahlt unentwegt und legt eine Neugier an den Tag, mit der Kinder in der frühen Phase ihrer Entwicklung das Leben entdecken. Monsieur Hasehase nimmt dabei die Rolle eines Alter Egos an. Das Stofftier ist immer führ ihn da und verleiht ihm Sicherheit. Wenn Simpel die Situation zu entgleiten droht, kann er sich auf Hasehase verlassen. Ansonsten begegnet der 22-Jährige jedem mit einer einnehmenden Offenheit, weshalb ihn alle recht schnell in ihr Herz schließen.

Als unwiderstehlicher Sympathieträger tritt auch Frederick Lau («Die Welle») in Erscheinung. Mit der Darstellung Bens liefert der junge, aber bereits routinierte Schauspieler ein Bravourstück ab. Seit Victoria gehört Lau zu den ganz großen Stars des deutschen Kinos und bestätigt in «Simpel» ein weiteres Mal, dass er dem derzeitigen Hype um seine Person mehr als gerecht wird. Wieder vereint er Charme, Wehmut und Humor so authentisch und unmittelbar, wie es nur wenigen seiner Kollegen gelingt. In jeder von Laus Gesichtsregungen drückt sich die Ambivalenz aus, die Bens Charakter ausmacht. Der ältere Bruder hat es zu seinem Lebensinhalt gemacht, für Simpel zu sorgen. Gleichzeitig leidet er darunter, weil er kein eigenes Leben hat. Daraus resultiert seine Zerrissenheit, weshalb er im Laufe des Roadtrips lernen muss loszulassen.

«Simpel» ist eine Tragikomödie über Respekt, Nächstenliebe und Lebensängste, die visuell kühle Bilder mit menschlicher Wärme kontrastiert. Der Tonfall der Erzählung macht sie gewiss zu einem rührenden Film. Dennoch wäre es gewagt, hier von einem «Feel-Good-Movie» zu sprechen. Gute Laune gibt es nur in sehr kleinen Portionen, was größtenteils der spannungsarmen Handlung und dem nicht immer stilsicheren Witz geschuldet ist. Eher stockend und enervierend wirkt der Einsatz Hasehases, der in nahezu allen Szenen mehrmals beim Namen genannt wird und die Handlung mitbestimmt. Der Film ist ganz passabel, feinfühlig und atmosphärisch dicht. Doch das reicht nicht aus, um mit Feel-Good-Movies wie «Garden State» oder «Forrest Gump» mithalten zu können.

Kinostart ist der 9. November 2017

Trailer zu Simpel:

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