„Das dunkle Gen“ (2014) Kritik: Depression, Angst und Existenz

Thomas Barth 15. Juni 2015 1
„Das dunkle Gen“ (2014) Kritik: Depression, Angst und Existenz

„In der Depression entwickelt man viele ‚fixe Ideen’“, sagt Frank Schauder, Hauptperson eines Films, der von seinem persönlichen Kampf gegen die seelische Erkrankung handelt. Seine ‚fixe Idee‘ ist die genetische Ursache seines Leidens: „Das dunkle Gen“. Der Film begleitet ihn bei der Erforschung dieser Idee, sucht dabei auch nach einer ästhetischen Darstellung seines wahnhaften Erlebens.

Die erste Einstellung zeigt Frank Schauder bei einer nachgestellten Erstbefragung in der psychiatrischen Notaufnahme. Die Ärztin erkundet anhand eines standardisierten Leitfadens seine geistige Klarheit, seine depressive Stimmung und die Suizidgefahr. Er berichtet Suizidgedanken und von Suizidversuchen in der Vergangenheit. Es ist eine unaufgeregte, realistische Darstellung, die jedoch pure Dokumentation überschreitet, indem sie uns von Anfang an in die Emotionen des Patienten hinein führt. Die so gezeigte empathische Haltung fern jeder Verkitschung behält der Film bei, wenn er in seinen biographischen Szenen dem Protagonisten in den Freundeskreis folgt, in Krankenhäuser, zu Gesprächen mit seinem Sohn. Die Kamera lässt uns ohne jeden Voyeurismus an seinem Leiden teilnehmen, an jahrelanger Depression mit zerbrechenden Beziehungen, sozialem Rückzug und psychiatrischen Behandlungen.

Frank Schauder ist Neurologe, was bedeutet, dass sein Fachgebiet sich zu etwa einem Drittel mit jenem der ihn behandelnden Psychiater überschneidet, und er ist fixiert auf die Genetik seiner Krankheit. Durch fast alle Gespräche, die wir ihn mit Familie, Freunden, behandelnden Ärzten und später Experten führen sehen, zieht sich die Suche nach den genetischen Wurzeln der Depression. Eine Suche, die biographisch in einem von ihm selbst finanzierten Gentest gipfelt: Eine US-Firma bietet die Analyse eingesandter DNA auf Krankheitsrisiken an. Möchte man solche Risiken kennen, auch wenn die Medizin keine Heilung für das betreffende Leiden hat? In Frank Schauders Freundeskreis sind die Meinungen geteilt.

Der Protagonist zeigt sich leicht enttäuscht, als ihm das Testergebnis nur ein durchschnittliches Erkrankungsrisiko bescheinigt. Taugt der Test nichts? Ist die Krankheit doch nicht im vermuteten Ausmaß erblich? Die übersteigerten Ängste und Schuldgefühle, seinem Sohn vielleicht die Neigung zur Depression vererbt zu haben, scheint das Ergebnis nicht zu mildern. ‚Fixe Ideen‘ und Wahnvorstellungen sind meist ziemlich resistent gegenüber ihnen widersprechenden Fakten.

Psychedelische Bilder

Miriam Jakobs und Gerhard Schick (Buch und Regie) begleiten in dieser ungewöhnlichen Dokumentation ihren Studienfreund Frank Schauder und machen ihn zum Ich-Erzähler. Doch die dokumentarische Handlung wird in künstlerisch stark bearbeiteter Form präsentiert. Immer wieder brechen hypnotisch-stille Bilder den Handlungsfluss: Die Hauptperson springt von einem Turm ins Wasser, wandert einsam im Schnee, Schneegestöber geht über in abstrakte Bilder von molekularen Vorgängen, von Genen bei der Arbeit, DNA wird abgelesen, gespalten und repliziert, Proteine entstehen, schwärmen herum, vielleicht auch chemische Botenstoffe.

Urheber dieser Bilder ist die Scivis Unit (Scientific Visualisation), die mit avancierter Software animierte 3D-Modelle von DNA, Proteinen und Molekülen, von Neurotransmittern und Rezeptoren gestaltet. Teilweise sind es Bilder wie aus einem biologischen Lehrfilm, aber ohne belehrende Texte, ausgedehnt, fast psychedelisch.  Der Film will mit den Computeranimationen nicht über wissenschaftliche Hintergründe der Biochemie aufklären, er zeigt vielmehr ihre -in diesem Kontext- unheilschwangere Ästhetik.

Existenz, Freiheit, Angst

Der Existenzialismus, von dem manche sagen, er sei das in eine philosophische Weltsicht gegossene Lebensgefühl des Depressiven, beschreibt die menschliche Existenz als subjektive Einsamkeit, als radikale Freiheit, aber auch als ausgeliefert sein an die eigene Endlichkeit, an den Tod und die Angst. Dem eigentlichen, authentischen, subjektiven Erleben der eigenen Existenz die uns, wie Sartre sagte, zur Freiheit verurteilt, steht die „objektive“ Außenseite gegenüber: Die Rollenspiele der Gesellschaft, mit Familie, Beruf, Kultur dessen was man eben tut, was man ist. In meine subjektive Existenz dringt diese Außenwelt durch den Blick der anderen, durch Manifestationen der Objektivität meiner Existenz, etwa im Röntgenbild meines Schädels -oder, abstrakter vielleicht, in Darstellungen meiner Gene.

An die Stelle der Freiheit zur Handlung tritt das Dasein als Objekt äußerer Umstände. Bieten sich hier ganz neue Möglichkeiten, der Verurteilung zur Freiheit bzw. dem subjektiven Leiden daran zu entkommen? Der Protagonist fragt an einer Stelle: „Lebe ich mein Leben, oder lebt es mich?“ Er fühlt sich als Produkt seiner DNA, deren verhängnisvoller Wirkung er ausgeliefert zu sein meint und die wir immer wieder als molekularen Bilderrausch wahrnehmen können.

Recherchen zum dunklen Gen

Der Film folgt Privatleben und Krankheitsverlauf auf diese Weise, zieht den Betrachter bis an die Grenze des Erträglichen hinein in eine Welt von Fremdheit und Verzweiflung. Dann gewinnt die Darstellung neuen Antrieb aus einer vom autobiographischen zum journalistischen übergehenden Aktivität des Protagonisten. Schauder reist herum und interviewt Experten zu seinem Thema: Mediziner, Biologen, Genforscher -bei ihnen sucht er die Wurzeln seines Leidens zu ergründen und zeigt dabei auch philosophische Aufgeschlossenheit.

Weitere Interviews führt Schauder, schon weit abseits seiner ursprünglichen Suche, mit einer Musikerin, die DNA vertonte und einem Bildhauer, der sich von der Biochemie zu surrealen Skulpturen inspirieren ließ. Diese Exkurse schließen optisch und akustisch an die abstrakten Animationen der molekularen Welt der Gene an, aber können sie nicht wirklich in die Erzählung einbinden. Eher gewinnen die hypnotisch wirbelnden Strukturen an Substanz, wenn Frank Schauder von seinen inneren Bildern der Depression erzählt, wie er seine kranken Gene bei ihrer Arbeit ahnt, wie er zu spüren meint, dass falsche Neurotransmitter sein Gehirn verwirren und zersetzen. Hier führen uns unheimliche Bildsequenzen direkter in die wahnhafte Erfahrungswelt der Depression als Interviews mit Künstlern es vermögen. Wir sind vielleicht nahe dran an halluzinatorischen Manifestationen von wahnhaften Vorstellungen, die einen depressiven Menschen quälen können. Nahe dran, am Erleben der Idee, hilflos in den Fängen eines dunklen Gens, einer verhängnisvollen DNA, zappeln zu müssen.

Wahnideen von Schuld und Verhängnis

Düstere Wahnideen von Schuld und Verhängnis begleiten viele schwere Depressionen, sie können sich zu Fehlwahrnehmungen und sogar Halluzinationen verdichten und den Erkrankten zu Selbstverletzungen, Suizid und in äußerst seltenen Fällen in den erweiterten Suizid treiben. Der Fall des Lufthansapiloten, der 150 Menschen mit in den Tod riss und aktuell der Depression viel Aufmerksamkeit verschaffte, ist jedoch eine schwer erklärbare Anomalie. Erweiterte Suizide betreffen in der Regel nahe Angehörige, die der Patient nach seiner Selbsttötung nicht alleine zurücklassen möchte -aus einem wahnhaft übersteigerten Schuldgefühl heraus.

Die erste wahnhafte Fehlwahrnehmung des Depressiven betrifft seine eigene Existenz, die er plötzlich als ausweglos gescheitert erlebt.Und dies auch dann, wenn seine Existenz eigentlich völlig normal verläuft oder sich -wie im Fall von Frank Schauder- sogar durch ein überdurchschnittlich gut gelungenes Leben auszeichnet. Jedes reale Scheitern erhöht natürlich das Risiko der Auslösung einer Depression und vertieft sie. Man kann dies an steigenden Suizidraten bei Anwendung zynischer Austeritätspolitik wie etwa in Griechenland sehen.

Am Ende versucht der Film immerhin noch ansatzweise eine kritische Reflexion der Gentechnologie, wenn der Protagonist bei jener Genfirma Antworten sucht, die ihm erstaunlich billig seine DNA analysierte. Inzwischen vom Datensammel-Moloch Google aufgekauft, versprechen sich Firmenvertreter lukrative Auswertungsmöglichkeiten der DNA-Big-Data in der Zukunft. Bedenklich scheinen auch die am Ende noch besuchten New Yorker Bio-Hacker in ihrem Low-Budget-Genlabor, die fröhlich mit Bakterien und Viren experimentieren und Sicherheitsfragen mit Gelächter quittieren. Doch diese Teile des Films wirken wie Fremdkörper, scheinen eher schon zu einer ganz anderen Doku zu gehören.

Das Ende gibt Hoffnung, zeigt einen Frank Schauder, der sich mit seinen Ängsten, seinem Sohn und sogar mit der äußeren Objektivation seiner Existenz, der DNA, versöhnen konnte. Der Kranke, der seine Depression überwunden hat, zeigt seinem Sohn, wie man in einem Sektglas die DNA einer Erdbeere sichtbar machen kann: Er hat sein Leben als Handelnder zurück gewonnen. Ein wirklich sehr gelungenes und bewegendes Bild.

Das Dunkle Gen läuft seit dem 11. Juni 2015 in den deutschen Kinos

„Das dunkle Gen“ (2014) Kritik: Depression, Angst und Existenz

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