Kritik zu „Whiplash“ (2014) – Mein Feind, der Lehrer

Tommy 7. März 2015 4
Kritik zu „Whiplash“ (2014) – Mein Feind, der Lehrer

Wie weit würden Sie gehen, um Ihre Talente optimal zu fördern? Um die Chance auf Erfolg zu erhöhen, wenn man ihn schon nicht garantieren kann. Würden Sie Ihre Beziehung beenden, Freundschaften vermeiden und den Kontakt zur Familie auf das Nötigste reduzieren? Wären Sie bereit, sich von einem cholerischen Lehrer anbrüllen, demütigen und schlagen zu lassen? Wie sieht es aus mit körperlicher Belastung: Üben, bis die Hände bluten und selbst Pflaster nicht mehr reichen. Solange, bis die eigene Lust am einstigen Hobby verpufft und nichts als eine funktionstüchtige Hülle bleibt, die auf Kommando abliefert. Zu viel für Sie? Verständlich, die meisten würden dabei an ihre Grenze kommen. Doch genau hier unterscheidet sich der junge Schlagzeuger Andrew Nieman (Miles Teller) von dem Gros seiner Konkurrenten: Er ist zu all dem bereit. Er will nicht einer der Besten sein und sich vom Publikum nach einem Auftritt sagen lassen müssen, dass er gut gespielt habe. Er will eine Jazz-Legende werden, von der man mit Ehrfurcht belegter Stimme schwärmt und nach dessen Auftritten man fassungslos zurückbleibt, weil man nicht glauben kann, was man gerade hören durfte. Mit dem Musiklehrer Terence Fletcher (J.K. Simmons) hat er einen Bruder im Geiste gefunden – oder eher im Fanatismus.

Im Zweifel für den Erfolg

Whiplash“ ist einer dieser Filme, bei denen gerne die Moralprediger hervorgekrochen kommen, um mahnend den Zeigefinger zu heben. Der Film transportiere eine zweifelhafte Botschaft, die Gewalt gegenüber Kindern zulasse, solange man sie mit vorzeigbaren Ergebnissen verkaufen könne. Und sicherlich kann sich dieser Eindruck aufdrängen, wenn man den Film einseitig betrachtet.

J.K. Simmons ist als Fletcher der Horror und dies derart famos, dass es selbst die Academy sehen konnte und ihm den Oscar als Bester Nebendarsteller überließ. Seine Darbietung erinnert an eine Mischung aus der unheimlichen Überlegenheit eines Hannibal Lecter, den traumatisierenden Ansprachen des Drill-Seargent Gunnery Hartman aus „Full Metal Jacket“, aber ebenfalls einer Prise Heath Ledger als Joker. Sein Ansichten wirken plausibel, sind in ihrer Umsetzung jedoch erschreckend. Er will aus seinen Schüler das Maximum herausholen, wofür sie ihre Grenzen überwinden müssen, an die er sie regelmäßig bringt. Alles andere ist vergeudetes Talent und damit ein mögliches Verbrechen an der Menschheit. Um das zu verhindern, greift er selbst zu Verbrechen. Er ohrfeigt seine Schüler, um ihnen das richtige Tempo zu vermitteln, spielt sie gegeneinander aus und lässt sie fünf Stunden lang bis zur Erschöpfung spielen, bevor er mit den eigentlichen Proben beginnt.

You have to pay the bill

Die Kritik am Film richtet sich besonders gegen die Fortschritte, die Andrew Neiman durch diese Lehrmethode erlangt. Ist das wirklich verwunderlich? Natürlich kann jemand sein Potenzial besser ausschöpfen, wenn er häufig hart trainiert. No pain, no gain. Selbst das Vorgehen von Fletcher sollte nicht zu ernsthaft betrachtet werden, da es offenkundig überzeichnet ist; was in Filmen ja durchaus mal vorkommen soll. Warum aber ein Vorgehen kritisieren, das durch den Film selbst kritisiert wird?

„Whiplash“ wird nicht müde aufzuzeigen, was Neiman auf sich nehmen muss, um auf diesem Weg Erfolg zu haben. Im ersten Absatz ist bereits deutlich geworden, was Andrew aufgibt, damit er sich ganz auf sein Training konzentrieren kann. Selbst wenn das für einige verlockend sein sollte, bleibt es letztlich ihnen selbst überlassen, ob sie sich derart drangsalieren wollen. Die einzige Gefahr ist der Stil von Terence Fletcher, weil dies Gewalt gegenüber anderen beinhaltet. Wobei man einen Musiklehrer à la Fletcher lange suchen wird. Eine solche Pädagogik ist heute obsolet und selbst Erfolg reicht nicht, um derartige Praktiken zu rechtfertigen.

Der greifbare Schmerz

In seiner Stilistik konzentriert sich „Whiplash“ auf die Leiden des jungen Schlagzeugers. In detaillierten Aufnahmen wird der Zuschauer gezwungen, sich Blut, Schweiß und Tränen anzusehen, die Neiman als Preis zahlen muss. Dabei gelingen Regisseur Damien Chazelle einprägsame Bilder, die lange nachklingen. Wenn seine Hand von den Drumsticks aufgescheuert wird, klebt Andrew sich ein Pflaster auf die Wunde und spielt weiter. Wenn das nicht reicht, klebt er ein zweites Pflaster darüber. Erst nach dem Ende seiner Übungseinheit gönnt er sich die überfällige Erholung: In Zeitlupe taucht seine Hand in eine Karaffe voll Eiswasser, das sich zunehmend mit dem Blut vermischt. Am Ende bleibt als Bild eine blutgefüllte Karaffe im Gedächtnis haften. Eine überwiegend positive Darstellung – finden Sie nicht?

Die Auseinandersetzungen zwischen Schüler und Lehrer werden von der berüchtigten Shaky-Cam dominiert, die mehr verflucht als geachtet wird. Sie trägt dazu bei, dass die Wutausbrüche von Simmons dynamischer und damit hektischer wirken, was ihnen eine brachiale Wucht verleiht, bei der man instinktiv den Kopf einziehen möchte. Jedoch ist die Shaky-Cam teilweise deplatziert eingesetzt; Chazelle hat nicht immer das richtige Gespür bei der Regie, was sich ebenfalls bei den Detailaufnahmen bemerkbar macht. Allerdings greift hier noch der Welpenschutz, denn es handelt sich bei „Whiplash“ um den zweiten Spielfilm von Chazelle. Angesichts dessen ist die Regiearbeit umso beeindruckender, da trotz der erwähnten Mängel eine erfrischende Interpretation des Genres geboten wird. Eigentlich handelt es sich um ein Musik-Drama, das durch die kraftvollen Duelle zwischen Nieman und Fletcher, die gekonnt stilistisch aufbereitet sind, wie ein Actionthriller oder teilweise gar wie ein Horrorfilm wirkt.

Alles für den Konflikt, alles für die Spannung

Der Aufbau erinnert an einen Sportfilm, nur dass der Trainer diesmal der Böse ist. Der Protagonist muss sich verbessern, Herausforderungen überwinden, wähnt sich auf dem richtigen Weg, bis ein Schicksalsschlag kommt, von dem er sich erholt und letztlich triumphiert. Im Groben folgt „Whiplash“ diesem Muster; bietet zwar einige Wendungen, die indes forciert erscheinen und die Glaubwürdigkeit der Geschichte ankratzen. Das Prunkstück ist schlichtweg der Konflikt, dem der Film klugerweise den Großteil seiner Laufzeit widmet. Dem Zuschauer wird ein Psycho-Duell auf höchstem Niveau geboten, das mit Charakterentwicklung und überzeugenden Schauspielern aufwarten kann. Simmons liefert eine Vorstellung, die das Zeug zum Instant-Klassiker hat, während Miles Teller anfangs einzig dem Schmerz ein Gesicht geben kann. Erst später beginnt sein Charakter Respekt einzufordern, was zur Folge hat, dass auch Teller sich emanzipieren und seinen Teil zum Gelingen beitragen kann.

In einer Kritik zu einem Musikfilm darf natürlich kein Kommentar zur Musik fehlen. Das Jazz-Milieu ist die Rahmenhandlung, weswegen kein genauer Einblick ermöglicht wird. Alles ist dem Konflikt untergeordnet, was den hübschen Nebeneffekt hat, dass selbst ohne Fachwissen verständlich ist, worum es geht. Wenn die Schüler Anforderungen erfüllen sollen, muss man mitbekommen, ob es ihnen gelingt oder sie sich den nächsten Anfall von Fletcher abholen dürfen. Außenstehende erhalten eher Einblicke in einige nette Anekdoten als eine Doppelstunde in Musik. Ob das eine Jazz-Leidenschaft bei den Zuschauern wecken kann, muss jeder für sich selbst entscheiden. Allerdings wird am Ende des Films ein neun-minütiges Schlagzeug-Solo in einer Intensität aufgeführt, dass es selbst Musikmuffel mitreißen wird. Der Film endet auf seinem Höhepunkt, genau dann, wenn es am schönsten ist. Und überlässt es dem Zuschauer, zu entscheiden, ob Andrews Opfer lohnenswert waren. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber sollte es nicht mehr Filme geben, die ihrem Publikum noch selbstständiges Denken zutrauen?

Will you clean the blood off my drum set? – Terence Fletcher

Beitragsbild: (c) Sony Pictures

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