In Ihren Augen: Kritik zum argentinischen Oscar-Gewinner

Lida Bach 6. Juni 2016 0
In Ihren Augen: Kritik zum argentinischen Oscar-Gewinner

Kurz bevor Billy Rays Remake Secret in their Eyes im Kino startet, lest ihr hier die Kritik zum preisgekrönten argentinischen Original von Jose Campanella. 

Nur ein Wort notiert der gealterte Esposito in der gediegener Melange aus Drama und Kriminalfilm. Temo – ich habe Angst. Die anderen Sätze, die dem Protagonisten (Ricardo Darin) im Kopf herumschwirren, scheinen leere Floskeln. Von denen hat auch das literarische Drama eine beachtliche Zahl in petto. Doch die überzeugenden Darsteller und das Gefühl schleichender Bedrohung verleihen der filmischen Stilübung trotz des moralischen Impetus ein bemerkenswertes Charisma. Die Vergangenheit streckt ihre Hand nach Esposito aus und lässt ihn nicht mehr los. Eine ähnlich hypnotische Wirkung gelingt in den besten Momenten der verschlungenen Story den in matte Gold- und Brauntöne gehaltenen Szenen. Aus jeder Einstellung sprechen die Ambitionen des Regisseurs und Drehbuchautors, ein zwischen zart und hart mäanderndes Poem zu schaffen. Es scheint, der Film wisse selbst nicht, ob er ein Arthouse-Movie sein will oder ein kommerzieller Thriller. Oft fesseln die atmosphärischen Dichte und ausgefeilten Figuren.

Doch zu oft unterwandern dramaturgische Schnitzer die sorgsam aufgebaute Spannung. Einen Roman verfassen, das versucht der pensionierte Kriminalbeamte Esposito. Doch statt des Buches nehmen die Erinnerungen an seine Berufslaufbahn in seinem Kopf Gestalt an. 25 Jahre sind vergangen, seit er den grauenvollen Mord an einer jungen Frau nicht klären konnte. „Ich weiß nicht, ob es meine Erinnerung ist oder die Erinnerung an die Erinnerung“, sinniert der hartnäckige Protagonist, der wie nicht anders zu erwarten den Mordfall noch einmal aufnimmt. Seine ehemalige Vorgesetzte Irene (Soledad Villamil) rät ihm, sich an den Anfang der Ereignisse zurückzuversetzen, um sie Schritt für Schritt ein zweites Mal aufzurollen. Schon früh ist offensichtlich, dass der desillusionierte Ermittler nicht nur Gerechtigkeit sucht, sondern Erlösung. Einst versprach er dem Witwer der Ermordeten, der Täter würde den Rest seines Lebens hinter Gittern verbringen. Doch dieses Leben ist für alle Beteiligten fast vorüber und Esposito weiß, dass selbst ein Abschluss des Falls sein Versprechen nicht erfüllen könnte. Im Zentrum des Seelendramas stehen das unverwirklichte Potenzial der Charaktere, ihre nie gestillte Sehnsüchte und gescheiterten Pläne.

Bis vor kurzem war Irene Espositos Vorgesetzte und es gab eine Zeit, da war sie seine Geliebte. Die gefühlte Ewigkeit scheint sich aufzulösen in den ineinander übergehenden Zeitebenen, um sogleich wieder als unüberwindbare Grenze zwischen den Charakteren zu stehen. Campanella verwebt die kriminalistischen Fäden zu einem pathologischen Netz, das die Figuren unerbittlich gefangen nimmt. Jeder Charakter des psychologischen Vexierspiels besitzt eine verborgenen Facette. Sie alle aufzudecken braucht seine Zeit, die sich mitunter quälend in die Länge zieht. Die Augen sind der Spiegel der Seele, ein Spiegel, der auch blenden und verzerren kann. Welches Gefühls sie in sich verschließen, begreifen die anderen, wenn es zu spät ist. Am Ende bleibt nur die Erinnerung und die ist für die Figuren stets schmerzhaft, ob sie es sich eingestehen oder nicht. Die Reue über eine unerfüllte Existenz liegt wie eine dunkle Ahnung über dem Geschehen. Eine bizarre Metapher für das filmische Meisterwerk, das sich andeutet, aber nie manifestiert.

OT: El secreto de sus ojos

Regie: Jose Campanella

Produktionsland: Argentinien, Spanien

Produktionsjahr: 2009

Verleih: Camino Filmverleih

Länge: 129 min.

Kinostart: 28. Oktober 2010

Beitragsbild © Camino Filmverleih

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